Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
umbringen kann. Was, wenn ich einen Unfall gebaut hätte? Also, so viel zum Thema Vision.»
«Aber du hast keinen Unfall gebaut», sagt er. «Ich war ja da.»
«Gott sei Dank.»
Er lächelt schelmisch. «Heißt das, dass ich ab jetzt fahren darf?»
Als ich Mama von der Rückkehr der Vision erzähle, fängt sie sofort wieder davon an, mir das Fliegen beibringen zu wollen, und das Wort «Training» benutzt sie so oft, dass ich mir allmählich vorkomme, als lebte ich in einem Bootcamp. Den ganzen Winter über war sie eigenartig ängstlich, hatte die meiste Zeit hinter geschlossener Tür in ihrem Arbeitszimmer verbracht, Tee getrunken und sich in eine Decke gehüllt. Wenn ich mal angeklopft oder den Kopf durch die Tür gesteckt habe, hatte sie immer diesen angespannten Gesichtsausdruck, als wollte sie nicht gestört werden. Und um die Wahrheit zu sagen, ich bin ihr ziemlich aus dem Weg gegangen seit diesem ersten Treffen mit Angela, seit mir klar geworden war, dass Mama mich absichtlich im Dunkeln gelassen hatte. Ich habe viele Nachmittage mit Angela im Pink Garter verbracht, was Mama nicht gefällt, aber im Grunde hat es ja mit der Schule zu tun (wir arbeiten schließlich an unserem Referat über Elisabeth I.), also kann sie nicht gut was dagegen sagen. Und an den Wochenenden war ich immer Skifahren. Was mit Christian zu tun hat und deshalb in Zusammenhang mit meiner Aufgabe steht. Und auch so etwas wie Training ist, oder?
Allerdings ist der Schnee auf dem Berg inzwischen ziemlich dünn geworden.
Das warme Wetter nimmt Wendy als Gelegenheit, mich zum Reiten zu überreden. Da bin ich nun also auf der Lazy Dog Ranch und sitze auf einer schwarzweißen Stute namens Sassy. Wendy sagt, Sassy sei ein gutes Pferd für einen Anfänger, weil sie etwa dreißig Jahre alt ist und nicht mehr viel Kampfgeist hat. Das ist mir nur recht, obwohl ich mich im Sattel sofort wohl fühle, als wäre ich mein ganzes Leben lang geritten.
«Du machst das wirklich gut», meint Wendy, die mir vom Zaun aus zusieht, während ich langsam am Rand der Wiese entlangreite. «Du bist ein Naturtalent.»
Sassys Ohren richten sich auf. In der Ferne sehe ich zwei Männer zu Pferde, die auf die große rote Scheune am Ende der Wiese zureiten. Über das Feld schwebt das Geräusch ihres Gelächters zu uns herüber.
«Das sind mein Vater und Tucker», sagt Wendy. «Bald ist das Abendessen fertig. Wir bringen Sassy jetzt lieber rein.»
Ich gebe Sassy einen sanften Tritt, und sie setzt sich Richtung Scheune in Bewegung.
«He da!», begrüßt mich Mr Avery, als wir näher kommen. «Das sieht richtig gut aus.»
«Danke. Ich bin Clara.»
«Ich weiß», erwidert Mr Avery. Er sieht genauso aus wie Tucker. «Seit Monaten redet Wendy ununterbrochen von dir.» Er grinst, und damit sieht er nur noch mehr aus wie Tucker.
«Papa», sagt Wendy leise. Sie geht zum Pferd ihres Vaters und krault es unter dem Kinn.
«Ach, du meine Güte», lacht Tucker. «Sie hat dich auf die alte Sassy gesetzt.»
Ich hatte mir geschworen, mich Wendy zuliebe heute von Tucker nicht provozieren zu lassen, egal, was er mir an den Kopf wirft. Keine patzigen Bemerkungen. Keine verbalen Retourkutschen. Ich würde mich von meiner besten Seite zeigen.
«Ich mag sie.» Ich beuge mich vor und streiche über Sassys Hals.
«Da setzen wir sonst nur kleine Kinder drauf.»
«Halt den Mund, Tucker», sagt Wendy.
«Aber das stimmt. Seit ungefähr fünf Jahren hat sich dieses Pferd nicht schneller bewegt als eine Schnecke. Auf ihr sitzt man praktisch wie auf einem Sessel.»
Na, er wird schon noch sehen.
«Braves Mädchen», sage ich ganz sacht auf Engellisch zu Sassy. Ihre Ohren schnellen herum, damit sie meine Stimme besser hört. «Lass uns loslaufen», flüstere ich.
Es überrascht mich, wie schnell sie gehorcht. Nur Sekunden später sind wir in vollem Galopp und schießen zur anderen Seite der Wiese. Einen Augenblick lang verlangsamt sich die Welt. Die Berge im Hintergrund leuchten in pfirsichfarbenem Gold, erhellt von der untergehenden Sonne. Ich genieße die kühle Frühlingsluft, die mir die Haut streichelt, das starke, wilde Gefühl der Stute unter mir, die die Beine streckt, als wollte sie im Galopp die Erde unter uns wegziehen, ihren nach Heu riechenden Atem. Es ist einfach herrlich.
Dann treibt mir ein Windstoß das Haar vors Gesicht, und einen beängstigenden Moment lang sehe ich nichts, und alles ist auf einmal viel zu schnell. Ich rechne schon damit, abgeworfen zu werden und
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