Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
silbergraue Krawatte. Seine Augen mit den goldenen Tupfen sind rot umrandet, als hätte auch er geweint. In seinem Blick eine Frage und gleichzeitig die Antwort darauf.
Und das, so wird mir klar, ist nun also der Moment der Entscheidung, worauf meine Vision mich die ganze Zeit vorbereiten wollte. Ich könnte mich jetzt losmachen, meine Hand wegziehen, ihm wieder sagen, dass ich ihn nicht brauche. Ich könnte mich an meine Wut, meine Enttäuschung über diese hoffnungslose Wahl halten. Oder ich könnte es zulassen. Ich könnte annehmen, was zwischen uns ist, und weitermachen. Dass ich jetzt eine so bedeutende Entscheidung treffen soll, ist sehr viel verlangt. Es ist eigentlich nicht fair. Aber schließlich ist es nie fair gewesen, dieses ganze Fiasko, von Anfang bis Ende.
Aber nun, da er meine Hand hält, meine Haut berührt, ist es tatsächlich so, dass die Schmerzen in meiner Brust nachlassen. Als hätte er die Gabe, einen Teil meiner Schmerzen auf sich zu nehmen. Wenn er in der Nähe ist, fühle ich mich so viel besser. Stärker. Und er nimmt mir die Schmerzen bewusst ab. Er will sie mit mir tragen.
Das sehe ich in seinen Augen. Ich bin mehr für ihn als eine lästige Pflicht. Ich bin mehr als seine Traumfrau. Ich bin so viel mehr.
Ich erinnere mich wieder an den Morgen im November, in unserer Küche in Kalifornien, als ich ihn zum ersten Mal unter den Bäumen stehen sah, wie er da auf mich wartete. Mein Herz klopfte, ich öffnete den Mund, wollte ihn beim Namen rufen, obwohl ich seinen Namen noch gar nicht kannte, spürte diesen unwiderstehlichen Drang, zu ihm zu gehen. Wie eine Filmszene spielt sich das nun in meinem Kopf ab, jeder einzelne Moment, den ich seitdem mit ihm erlebt habe, wie er mich an meinem ersten Schultag ins Krankenzimmer trägt, Mr Eriksons Geschichtsstunde, das Essen bei Pizza Hut. Die gemeinsame Fahrt im Skilift. Der Abschlussball. Der Abend auf der Veranda, als wir die Sterne betrachteten. Wie er am Abend des Waldbrands hinter den Bäumen hervorkam. Jede einzelne Nacht, in der er auf dem Dachvorsprung saß, die Wiese, der Skihügel, dieser Friedhof, als er mich küsste, jeder einzelne Augenblick, den wir gemeinsam erlebten, und immer habe ich diese Kraft gespürt, die mich zu ihm hinzog. Seitdem höre ich immer wieder diese Stimme, die in meinem Kopf flüstert.
Wir gehören zusammen.
Mir ist nicht klar, dass ich die Luft anhalte, bis ich plötzlich ausatme. Ich schaue auf unsere ineinander verschlungenen Hände. Mit dem Daumen streicht er mir sacht über die Knöchel meiner Hand. Dann schaue ich wieder hoch, ihm ins Gesicht. Hat er das alles gehört, dieses Gestotter und Gestammel meines Herzens? Hat er meine Gedanken gelesen?
Du schaffst das , sagt er. Ich weiß nicht, ob er Mamas Tod meint oder vielleicht etwas anderes.
Vielleicht ist das auch egal.
Ich schaue ihm in die Augen, spanne meine Hand in seiner Hand an.
Lass uns gehen , sage ich zu ihm ohne Worte. Die Leute warten.
Und gemeinsam gehen wir weiter.
Ich erwarte den Kreis der Leute, das Loch im Boden, neben dem der Sarg meiner Mutter steht. Der Schock bei diesem Anblick hat sich inzwischen etwas gemildert. Ich kenne die Worte, die Stephen sagen wird. Ich rechne damit, Samjeeza zu spüren. Aber ich wusste nicht, dass ich in diesem Augenblick Mitleid mit ihm haben würde. Ich hatte nicht vor, anschließend zu ihm zu gehen, nachdem die Gebete gesprochen waren und der Sarg hinabgesenkt und mit Erde bedeckt worden ist, nachdem die Menge sich zerstreut hat und Jeffrey und Christian und Billy und mich dort allein lässt. Ich spüre Samjeeza, seinen Kummer, der nicht daher rührt, dass er von Gott getrennt wurde oder gegen seinen engelhaften Plan handelte, sondern daher, dass er endlich akzeptiert, dass er meine Mutter für immer verloren hat. Und ich weiß in aller Deutlichkeit, was ich zu tun habe.
Ich lasse Christians Hand los. Ich gehe zu dem Zaun am Ende des Friedhofs.
Clara? , ruft Christian mir besorgt hinterher.
Bleib da. Es ist alles gut. Ich werde den geweihten Boden nicht verlassen.
Ich rufe Samjeeza.
Er kommt zu mir an den Zaun. In Gestalt eines Hundes kommt er den Hügel herauf, dann verwandelt er sich, steht still auf der anderen Seite der Absperrung und blickt mich mit traurigen bernsteinfarbenen Augen an. Weinen kann er nicht – das ist in seiner Anatomie nicht vorgesehen. Und er verabscheut es, dass man ihm nicht die Würde des Tränenvergießens zubilligt.
Ich bin verlegen, schließlich ist er böse
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