Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
schnell, und sie ist mächtig.
Aber endlos weiterfliegen kann sie nicht.
Nur Minuten später befinden wir uns tief im Grand Teton National Park, der Jackson Lake taucht unter uns auf wie ein langgezogener schimmernder Spiegel. Lucy schwingt sich höher hinauf, bewegt sich jetzt eher in die Höhe als vorwärts, und ich frage mich, was sie vorhat. Die Luft ist sehr dünn, und mit jedem mühsamen Atemzug, den ich mache, fühlt sich meine Kehle trockener an; meine Lungen verlangen nach Sauerstoff.
Halt! , schreie ich ihr zu.
Sie wird langsamer, dann verharrt sie in der Luft, ihre Flügel schlagen beinahe sanft. Sie ist erschöpft.
«Genug», keucht sie, als ich nur noch knapp acht Meter von ihr entfernt bin, und ihre Stimme kommt abgehackt. In der Luft dreht sie sich zu mir um. Tucker hängt schlaff in ihren Armen, seine Arme und Beine baumeln in der Luft, den Kopf hat er in den Nacken gelegt. Wir sind auf einer Höhe mit den Berggipfeln der Grand Tetons. Ich mache mir Sorgen, dass er in dieser Höhe nicht atmen kann. Ich mache mir Sorgen, dass sie ihn womöglich mit dem Kummerdolch getötet hat. Ich mache mir Sorgen wegen des wahnsinnigen Ausdrucks in ihren Augen.
«Gib ihn mir», sage ich.
Sie lächelt ironisch, und ich sehe diesen speziellen Ausdruck auf ihrem Gesicht, den ich von Angela kenne, wenn sie einen Plan schmiedet.
«Dann komm und hol ihn dir», speit sie aus.
Der durch die Luft surrende Kummerdolch erwischt mich unvorbereitet.
Sie hat schlecht gezielt, aber der Dolch streift meine Schulter und einen Teil meines linken Flügels. Der Schmerz ist intensiv, durchdringend, die Art Schmerz, der die Wahrnehmung verlangsamt, und so brauche ich ein paar Atemzüge länger als gewöhnlich, um zu begreifen, was sie getan hat.
Sie fliegt wieder davon.
Und Tucker fällt. Hinunter, hinunter, tief hinunter fällt er.
Auf den See zu, der so weit unter uns liegt.
Ich denke nicht mehr an Lucy. Es gibt jetzt nur noch Tucker, doch in dem Moment, in dem ich nach unten schieße, weiß ich bereits, dass ich ihn nicht mehr rechtzeitig erreichen werde.
Ich versuche es dennoch. Ich stoße durch die Luft auf ihn zu, aber er ist zu weit weg, als dass ich ihn auffangen könnte.
Es ist furchtbar, diese wenigen Sekunden, aber es ist auf eine friedliche Art und Weise furchtbar, wie er sich wieder und wieder in der Luft dreht, sacht, anmutig, beinahe wie im Tanz, mit geschlossenen Augen, leicht geöffnetem Mund, sein Haar, das in den Monaten, in denen ich ihn nicht gesehen habe, länger geworden ist, streichelt sein Gesicht. Die Welt unter uns öffnet sich in einem Rausch von Blau und Grün.
Und dann schlägt er auf dem Wasser auf.
Dieses Geräusch werde ich noch bis ans Ende meiner Tage in meinen Albträumen hören. Er schlägt mit dem Rücken auf, trifft mit einer derartigen Wucht auf die Wasseroberfläche, dass sie hart ist wie Beton. Die Wasserfontäne ist gewaltig, sie verdeckt mir die Sicht. Wenige Augenblicke später tauche ich ins Wasser ein, nachdem ich gerade noch meine Flügel eingezogen habe. Das Wasser umschließt mich, ist über mir, kalt wie ein Messer, das mich schneidet, und boxt mir die Luft aus den Lungen. Ich dränge nach oben, durchstoße die Wasseroberfläche, hole keuchend Luft. Von Tucker ist nichts zu sehen. Hektisch drehe ich mich im Wasser, halte Ausschau, bete um ein Zeichen, ein paar Luftbläschen, irgendetwas als Hinweis darauf, wo ich suchen soll, aber da ist nichts.
Ich tauche. Das Wasser ist dunkel und tief. Ich schraube mich nach unten, die Augen habe ich weit geöffnet, ich strecke die Hände aus und taste.
Ich muss ihn finden.
Erspüre ihn , höre ich eine Stimme in meinem Kopf. Erspüre ihn mit mehr als nur deinen Händen.
Ich gehe tiefer hinunter, drehe mich in eine andere Richtung. Mein Brustkorb verlangt nach mehr Luft, ich verweigere sie ihm. Ich tauche noch tiefer, taste mit meinem Bewusstsein nach ihm, nach einem winzigen Aufflackern von etwas, das er sein könnte, und als ich die Hoffnung schon aufgeben und an der Oberfläche Luft holen will, berühren meine Finger seinen Stiefel.
Es dauert qualvoll lange, bis ich ihn an der Oberfläche habe. Ich ziehe ihn aus dem Wasser heraus auf die steinige Uferböschung, schreie so laut, wie ich nur kann, um Hilfe, dann sinke ich neben ihm auf die Knie und lege ihm ein Ohr auf die Brust.
Sein Herz schlägt nicht. Er atmet nicht.
Mund-zu-Mund-Beatmung habe ich nicht gelernt, aber ich versuche es trotzdem. Ich weine krampfartig und
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