Unendlichkeit
Voraus zu kennen, aber vielleicht hatte dieser Taraschi auch das in seinem Kontrakt ausdrücklich vermerkt. Im Allgemeinen unterschrieb man einen Kontrakt mit den Schatten nur dann, wenn man sich gute Chancen ausrechnete, ihrem Attentäter über die vertraglich festgelegte Zeitspanne hinaus entkommen zu können. Auf diese Weise bekämpften die praktisch unsterblichen Reichen die Langeweile, zwangen sich selbst, die eingefahrenen Geleise zu verlassen – und hatten etwas, womit sie prahlen konnten, wenn sie, was meistens der Fall war, den Kontrakt überlebten.
Khouri konnte ihre Verbindung zu den Schatten sehr genau datieren. Sie war an dem Tag in die Organisation eingetreten, als sie im Orbit um Yellowstone in einem vom Eisbettelorden betriebenen Karussell reanimiert wurde. Obwohl es um Sky’s Edge keine Vertreter dieses Ordens gegeben hatte, hatte sie schon von ihm und seiner Funktion gehört. Es handelte sich um eine religiös geprägte Gemeinschaft von Freiwilligen, die es übernommen hatten, all jene zu betreuen, die bei der Durchquerung des interstellaren Raumes ein irgendwie geartetes Trauma erlitten hatten. Die Reanimations-Amnesie, eine häufige Nebenwirkung des Kälteschlafs, war ein solches Trauma.
Darunter zu leiden wäre an sich schon schlimm genug gewesen. Manchmal war der Gedächtnisverlust so schwer, dass Jahre des früheren Lebens wie ausgelöscht waren. Khouri wusste nicht einmal mehr, dass sie einen Interstellarflug angetreten hatte. Doch ihre letzten Erinnerungen waren sogar recht detailliert. Sie hatte auf Sky’s Edge in einem Sanitätszelt neben Fazil, ihrem Mann, in einem Bett gelegen. Beide waren bei einem Feuerwehreinsatz verletzt worden; ihr Zustand war nicht lebensbedrohend, aber ihre Brandwunden ließen sich am besten in einem der Orbithospitäler behandeln. Ein Pfleger war gekommen und hatte ihnen erklärt, sie seien für einen kurzen Kälteschlaf eingeteilt. Man wolle sie herunterkühlen, mit einem Shuttle in den Orbit bringen und dort in einem Kälteschlaftank so lange Zwischenlagern, bis auf dem Operationsplan des Hospitals ein Platz frei würde. Das könne Monate dauern, aber der Pfleger versicherte ihnen lächelnd, aller Voraussicht nach sei der Krieg noch nicht zu Ende, wenn sie wieder einsatzfähig wären. Khouri und Fazil hatten ihm vertraut. Schließlich waren sie beide Berufssoldaten.
Als Khouri nach der Reanimation erwachte, lag sie nicht auf der Genesungsstation des Orbithospitals. Stattdessen sah sie sich mit Angehörigen des Eisbettelordens konfrontiert, die mit Yellowstone-Akzent auf sie einredeten. Nein, erklärten sie. Sie leide nicht unter Gedächtnisschwund. Und sie habe auch keine anderen Kälteschlafschäden erlitten. Es sei wesentlich schlimmer.
Es war, um mit den Worten des obersten Bruders zu sprechen, zu einer Verwechslung gekommen. Unweit von Sky’s Edge war die Kryo-Anlage von einer Rakete getroffen worden. Khouri und Fazil gehörten zu den wenigen Glücklichen, die mit dem Leben davonkamen, aber bei dem Angriff waren alle Datenspeicher der Anlage zerstört worden. Das Personal hatte sein Möglichstes getan, um die Eingefrorenen zu identifizieren, aber dabei waren Fehler nicht zu vermeiden gewesen. Khouri hatte man für eine Demarchistin gehalten, die als Kriegsbeobachterin nach Sky’s Edge gekommen war und sich auf der Heimreise nach Yellowstone befand, als sie in den Raketenangriff geriet. Man hatte sie im Schnellverfahren zuerst auf den Operationstisch und dann auf ein Raumschiff gebracht, das unmittelbar darauf startete. Leider hatte man bei Fazil nicht den gleichen Fehler gemacht. Während Khouri im Schlaf auf dem Weg nach Epsilon Eridani Lichtjahre zurücklegte, wurde Fazil mit jedem Jahr ihres Fluges ein Jahr älter. Natürlich, sagten die Angehörigen des Bettelordens, sei die Verwechslung rasch entdeckt worden – aber da war es schon viel zu spät. Selbst wenn Khouri sofort nach Sky’s Edge zurückgeflogen wäre (was wiederum unmöglich war, weil alle derzeit um Yellowstone parkenden Schiffe andere Zielhäfen angegeben hatten), wären fast vierzig Jahre vergangen, bis sie Fazil wiedergesehen hätte. Und Fazil hätte den größten Teil dieser Zeit nicht gewusst, dass sie auf dem Heimweg war; nichts konnte ihn hindern, die Scherben seines Lebens aufzusammeln, eine neue Ehe zu schließen und Kinder zu zeugen. Bis sie käme, hätte er womöglich schon Enkel, und sie wäre nur ein Geist aus einem früheren Leben, das er inzwischen fast vergessen
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