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Unendlichkeit

Unendlichkeit

Titel: Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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vom Boden, griff nach einem durchhängenden Kabel und war bald zwischen den anderen Flecken verschwunden, die sich durch die bräunlichen Weiten des überdachten Himmels schwangen.
    »Kiste«, sagte sie. »Jetzt kommt dein großer Moment.« Sie hörte seine Stimme im Kopf. »Vertrau mir. Diesmal habe ich ein sehr gutes Gefühl.«
 
    Der Rat des Captains war ausgezeichnet, dachte Ilia Volyova. Nagorny zu töten war immer die einzig gangbare Möglichkeit gewesen. Und Nagorny hatte ihr die Entscheidung sehr erleichtert, indem er seinerseits als Erster einen Anschlag auf sie verübte und ihr damit alle moralischen Bedenken abnahm.
    Das war schon vor etlichen Monaten Schiffszeit geschehen. Sie hatte die unangenehme Pflicht nur immer wieder aufgeschoben. Doch jetzt würde das Schiff in Kürze in die Umlaufbahn um Yellowstone einschwenken und die anderen würden aus dem Kälteschlaf erwachen. Das würde sie in ihren Möglichkeiten sehr beschränken. Sie musste ja den Anschein wahren, als sei Nagorny im Kälteschlaf an einer dafür geeigneten Störung seines Kryo-Tanks gestorben.
    Also musste sie rasch handeln. Sie saß ruhig in ihrem Labor und sammelte Kräfte, um zu tun, was nötig war. Volyovas Kabine war für die Verhältnisse der Sehnsucht nach Unendlichkeit eher bescheiden; dabei hätte sie sich auch eine feudale Suite zuweisen können. Aber wozu? In ihren wachen Stunden war sie fast ausschließlich mit Waffensystemen beschäftigt. Und wenn sie schlief, träumte sie von Waffensystemen. Sie genehmigte sich – genießen wäre ein zu starker Ausdruck gewesen – einige wenige Freuden, für die sie Zeit fand, und dafür war Platz genug. Sie hatte ein Bett und ein paar nach rein praktischen Gesichtspunkten gestaltete Möbelstücke, obwohl das Schiff ihre Kabine in jedem nur denkbaren Stil hätte ausstatten können. In einem Nebenraum hatte sie sich ein kleines Labor eingerichtet und hier hatte sie der Einrichtung größere Aufmerksamkeit gewidmet. In diesem Labor experimentierte sie mit Therapien für den Captain, mit verschiedenen Arten der Seuchenbekämpfung, die aber noch zu abstrakt waren, um der übrigen Mannschaft davon zu berichten. Sie wollte keine falschen Hoffnungen wecken.
    Und seit sie Nagorny getötet hatte, bewahrte sie hier auch seinen Kopf auf.
    Er war natürlich eingefroren. Er steckte in einem alten Raumhelm-Modell, das sofort auf Kryo-Konservierung umgeschaltet hatte, als es entdeckte, dass sein Insasse nicht mehr am Leben war. Volyova hatte auch von Helmen gehört, in deren Halsteil rasiermesserscharfe Iriden eingebaut waren, die den Kopf im Fall einer Katastrophe rasch und sauber vom Rumpf trennten – das war hier nicht der Fall gewesen.
    Immerhin hatte der Mann einen interessanten Tod gehabt.
    Volyova hatte den Captain geweckt, um ihm die Situation zu schildern. Der Waffenoffizier hatte – offenbar durch ihre Experimente – den Verstand verloren. Sie beschrieb die Probleme, auf die sie gestoßen war, als sie Nagorny über die Implantate, die sie selbst ihm eingesetzt hatte, an den Leitstand anschließen wollte. Sie erwähnte flüchtig, dass Nagorny von ständig wiederkehrenden Albträumen geplagt wurde, doch dann kam sie schnell zum Hauptpunkt: der Rekrut hatte sie angegriffen und war anschließend in den Tiefen des Schiffes verschwunden. Der Captain war auf die Albträume nicht weiter eingegangen und darüber war Volyova zunächst sehr froh gewesen. Sie sprach nicht gern über diese Träume und schon gar nicht wollte sie sich mit ihrem Inhalt auseinandersetzen.
    Hinterher hatte sich das Thema jedoch nicht mehr so leicht beiseite schieben lassen. Das lag daran, dass es sich nicht einfach um irgendwelche Albträume handelte, was an sich schon beunruhigend gewesen wäre. Nein, nach allem, was sie in Erfahrung bringen konnte, war Nagorny von immergleichen, ungemein realistischen Traumbildern gequält worden, in denen zumeist ein Wesen namens Sonnendieb die Hauptrolle spielte. Dieser Sonnendieb war Nagornys persönlicher Peiniger. In welcher Gestalt er dem Kranken erschien, ließ sich nicht genau beschreiben, doch er verbreitete ohne jeden Zweifel eine überwältigende Atmosphäre des Bösen. Volyova hatte etwas davon in den Skizzen gespürt, die sie in Nagornys Unterkunft gefunden hatte: grässliche Vogelgestalten, mit hektischen Bleistiftstrichen aufs Papier geworfen, Gerippe mit leeren Augenhöhlen. Wenn das ein Blick in Nagornys krankes Hirn war, dann hatte sie mehr als genug gesehen. Aber in

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