Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
ganzen Körper bedeckt zu haben, öffnete ich die Decke einen Spalt breit, sodass ich nach draußen schauen konnte. Mission erfolgreich ausgeführt: Von hier aus würde ich nach Madar Ausschau halten können.
Zum ersten Mal sah ich nun die Umgebung bei Tageslicht. Vor mir erstreckten sich lange Reihen von Familienhäusern, alle ebenfalls mit flachen Poschtebum , auf denen viele Wäscheleinen hingen. Auf dem Dach des Nachbarhauses fiel mir der große Käfig voller Tauben auf. Neben einigen grauen waren es bestimmt über fünfzehn weiße Tauben, die ich am schönsten fand. Mein Onkel hatte einen ähnlichen Taubenkäfig und immer, wenn ich bei ihm zu Besuch war, ließ er mich die Tiere füttern, während ich den komischen Lauten horchte, die sie von sich gaben.
Als ich dann meinen Blick auf die Straße vor der Haustür richtete, war ich erstaunt. In unserer Ankunftsnacht war sie menschenleer gewesen, doch jetzt stand dort eine permanente Staubwolke in der Luft, die von den vielen vorbeifahrenden Autos stammte. Immer wieder überquerten Fußgänger die Straße, ohne auf die Wagen zu achten. Die Fahrer reagierten mit wildem Hupen. Doch wie sollte ich Madar ausfindig machen? Viele Frauen waren dort unten unterwegs, alle komplett in ihre Tschadors gehüllt, den langen, meist schwarzen Schleiern. Sie ließen zwar einen kleinen Schlitz in ihrem Umhang offen, durch den man ihre Augen sehen konnte, aber für mich waren sie aus dieser Entfernung absolut ununterscheidbar. Nach einer Weile wendete ich mich enttäuscht von der Straße ab, müde von dieser Menge der Frauen, die alle unsere Mutter hätten sein können. Der Staub, die Wärme unter der Decke und das ständige Blinzeln gegen die Sonne ließen mich allmählich wegdämmern. Gerade war ich eingeschlafen, da fiel plötzlich das Metalltor mit einem lauten Knall zu. Ich blickte auf und sah Madar. Hastig sprang ich hoch und kletterte wie verrückt die Leiter herunter.
»Endlich bist du zurück«, rief ich laut und rannte auf sie zu. »Wo warst du bloß?«
Von meinem Schrei aufgeschreckt, kamen auch Masoud und Mojtaba angelaufen.
»Madar, wir haben uns Sorgen gemacht«, begrüßte Mojtaba sie mit vorwurfsvollem Ton.
Sie zögerte kurz. Erst da erkannte ich, dass sie traurig war.
»Ich habe mit Pedar gesprochen.«
»Ahh, Pedar kommt also«, sprudelte es aus mir freudig heraus.
» Bemiram Elahi! «, sie schloss mich in ihre Arme. »Pedar kann nicht kommen, solange wir hier sind. Es wäre zu gefährlich für uns alle. Ihr müsst leider noch ein wenig Geduld haben. Wenn das alles vorbei ist, werden wir wieder eine Familie sein.«
Ich verstand die Welt nicht mehr. Niemand durfte uns besuchen: weder Mamani und Babai noch Farroch. Jetzt sollten wir sogar auf unseren eigenen Vater verzichten. »Und ich dachte, er könnte uns dabei helfen, die Räder für die Tschar-tscharche zu basteln«, flüsterte ich. »So wie er uns immer beim Reparieren unserer Fahrräder hilft.«
MOJTABA Das Frühstück am nächsten Morgen kam mir wie eine deprimierende Schulstunde vor; wie wenn der Lehrer einige Schüler wegen eines Verstoßes an die Tafel stellt und mit Ohrfeigen bestraft. Masoud, Milad und ich starrten auf den Tisch vor uns, der allerdings keine zerkratzte dunkle Schulbank war, sondern der Küchentisch mit blumengemusterter Tischdecke und typisch iranischem Frühstück darauf: Butter, Rosenblütenmarmelade, Schafskäse, Barbari – iranisches Fladenbrot – und für mich am wichtigsten: eine Schale voller Walnüsse. Ich vergötterte sie regelrecht und knabberte Morgen für Morgen alle, die ich finden konnte, aber wie durch Zauberhand war die Schüssel am nächsten Tag wieder prall gefüllt.
Auch heute Morgen hatte ich mir eine Walnuss genommen, die ich jedoch seit Beginn des Frühstücks ohne Appetit in der Hand hielt. Milad und Masoud kauten ebenso lustlos.
Aus Milads Brusttasche ragte der Rand eines gefalteten Blatts heraus. Ich wusste ganz genau, dass es seine Skizze für die Tschar-tscharche war. Gestern noch hatte ich ihn damit gefoppt: »Wenn du weiterhin den ganzen Tag mit deinem Bleistift und deiner Skizze rumläufst, dann besorge ich dir noch einen Helm und eine dicke Brille und nenne dich ab sofort Agha Architect .« Er hatte gelacht, sich aber nicht beirren lassen und weitergetüftelt. Seit der Nachricht von gestern blieb die Skizze in der Tasche. Dass Pedar nicht zu uns kommen sollte, brachte unsere Pläne in Gefahr. Unser Vater hatte zwar nie viel Zeit mit uns
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