Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
fertig seien, hatten die Schlepper Madar gesagt, könne es losgehen. Wir sollten auf ihren Telefonanruf warten. Die Schlepper hatten auch das Land bestimmt, das unser neues Zuhause werden sollte: Deutschland. Sie sagten, dort kämen wir am besten hinein.
Ich hatte den Iran noch nie verlassen und Deutschland lag jenseits meiner Vorstellungswelt. Madar versuchte mich aufzumuntern und erzählte, dass sie dort eine Frau namens Scholeh kenne. Sie lebe in der Stadt Hannover und sei in ihrem Alter. Über die politische Arbeit hätten sie sich kennengelernt und in den vergangenen Jahren auch einige Briefe ausgetauscht. Masoud, Milad und ich trugen ebenfalls alles zusammen, was wir über Deutschland wussten. Es waren belanglose Dinge: Durch unsere Fußballspielkarten kannten wir die Fußballhelden Rudi Völler und Lothar Matthäus. Wir waren zwar große Fans von ihnen, aber was würde uns das in Deutschland nutzen? Wahrscheinlich genauso wenig wie »Achtung!« – das einzige deutsche Wort, das komischerweise jeder Iraner kannte. Selbst über Hitler wussten wir lächerlich wenig.
Seitdem feststand, dass wir den Iran verlassen würden, verbrachten wir drei Brüder jede freie Minute im Keller. Die Tschar-tscharche waren nun fahrbereit, denn heute Nachmittag hatten wir endlich die Räder befestigt. Am liebsten hätte ich sofort eine Runde gedreht, aber wir hatten uns gegenseitig versprochen, damit bis zum morgigen Rennen zu warten. Es sollte alles perfekt sein.
Ich hatte aus Tapetenresten große Plakate gestaltet und sie in unserem Schlafzimmer, in der Küche und im Wohnzimmer aufgehängt. Sie kündigten das große Ereignis an: »Kommt vorbei beim spektakulären Rennen der Brüder Sadinam. Es erwartet euch ein atemberaubender Wettkampf auf den einzigartigen Tschar-tscharche. Seid dabei, wenn MOJTABA MIT SEINEN BRENNENDEN REIFEN , MILAD MIT SEINEN RAFFINIERTEN SCHLANGENLINIEN und MASOUD MIT SEINEM SCHWEBENDEN FAHRSTIL ins Ziel kommen! Das Rennen findet morgen auf dem Hof statt, gleich nach dem Frühstück.«
Chaleh Laleh war von den Plakaten dermaßen begeistert, dass sie eines ihrer alten Bettlaken in zwei geschnitten, sie mit uns bemalt und als Start- und Zielmarkierung im Hof angebracht hatte.
» Batscheha , schaut euch einmal an, was wir hingekriegt haben«, sagte ich voller Stolz zu Milad und Masoud. Auf dem Arbeitstisch standen vier Dosen Holzlack und einige Pinsel, die uns Amu Haschem mitgebracht hatte. »Sie brauchen nur noch eine schöne Farbe!«, rief ich und jeder schnappte sich seine Lieblingsfarbe: Meine Tschar-tscharche sollte rot sein, Masoud wählte Grün und Milad Blau.
Wir machten uns an die Arbeit, und erst als Chaleh Laleh einige Zeit später im Keller auftauchte, bemerkte ich, dass es bereits dunkel geworden war. Sie wollte uns zum Abendessen holen, doch ich tat beschäftigt. Eigentlich leuchtete mein Wagen schon komplett rot, aber ich hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen, etwas Geheimes. »Geht ihr schon mal vor und sagt Madar, dass ihr ohne mich anfangen könnt.«
Als die beiden verschwunden waren, kroch ich unter den Arbeitstisch und holte eine alte Schachtel heraus. Darin befanden sich drei runde Holzscheiben, die ich am Tag zuvor heimlich ausgeschnitten und glatt geschliffen hatte. Sie sollten unsere Abzeichen werden: Ich befestigte die Scheiben an den vorderen Balken der Tschar-tscharche . Dann strich ich sie sorgfältig mit der jeweils passenden Farbe. Nun kam auch Weiß zum Einsatz: Auf jede Scheibe schrieb ich so schön wie möglich ein geschwungenes »
م
« – den persischen Buchstaben »m«, womit unsere drei Namen begannen. Jetzt sind die Tschar-tscharche perfekt, dachte ich und freute mich auf morgen und auf die überraschten Gesichter meiner Brüder.
Als ich nach oben kam, schliefen Milad und Masoud schon. Madar und Chaleh Laleh saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich. Ich folgte hungrig dem Essensgeruch und fand auf dem Küchentisch einen prall gefüllten Teller mit Kuku Sabsi – einem iranischen Kräuteromelett, das auch kalt sehr gut schmeckte. Fast alle mir bekannten Kräuter kamen dort hinein: Petersilie, Koriander, Schnittlauch, Blattspinat, Minze und Dill. Ich aß meine Portion mit Brot und Naturjoghurt.
Als ich danach endlich auf meiner Decke lag, konnte ich den Blick nicht vom Ankündigungsplakat an der Tür lösen. MOJTABA MIT SEINEN BRENNENDEN REIFEN , MILAD MIT SEINEN RAFFINIERTEN SCHLANGENLINIEN und MASOUD MIT SEINEM SCHWEBENDEN FAHRSTIL. Es war zum Greifen nah
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