Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
und meine Gedanken daran verschmolzen zu einem rasanten Film. Ich sah alles genau vor mir: Wie unsere glänzenden Tschar-tscharche startbereit auf dem Hof warten. Wie wir am Metalltor losfahren und nach dem Startschuss so schnell treten wie wir können. Wie Madar und Chaleh Laleh jubelnd am Rand stehen und klatschen. Wie mir der Fahrtwind durchs Haar wirbelt. Und – schließlich – wie eine sich überschlagende Reporterstimme den grandiosen Abschluss des Rennens kommentiert: »Unglaublich! Da sind sie! Die drei Ms rasen lachend über die Ziellinie …«
So schlief ich ein.
Jemand rüttelte heftig an mir. Ich wachte völlig benommen auf und öffnete mit aller Kraft meine schweren Augenlider. Das Licht der Zimmerlampe blendete mich. In der Ecke des Zimmers stand unsere Mutter und stopfte eilig ein paar Kleidungsstücke in einen kleinen Koffer.
»Madar, was ist los?«, brummte ich. »Es ist noch stockdunkel. Wieso weckst du mich schon?«
Sie kam schnell zu mir herüber, ging in die Hocke, küsste mich auf die Wange und sagte: »Letzte Nacht, als ihr schon geschlafen habt, rief mich der Schlepper an. Es geht los. Weck bitte deine Brüder auf, wir müssen uns beeilen.«
Es dauerte etwas, bis ich verstand, worauf sie hinauswollte; doch dann war ich schlagartig aufmerksam. Ich schüttelte Milad und Masoud wach und erklärte ihnen, was los war.
Milad setzte sich langsam auf und machte eine verdutzte Miene. »Aber … aber unser Rennen«, stammelte er. Seine Augen fixierten Madar und warteten offensichtlich auf eine Antwort. Doch sie war weiterhin mit dem Koffer beschäftigt und reagierte nicht. »Madar!«, setzte Milad nach.
Madar stützte sich mit beiden Händen auf den Koffer, es machte »klack«, und sie trug ihn zur Tür. »Keine Zeit dafür«, sagte sie harsch, als sie an uns vorbeiging. »Ein Ajans wartet draußen. Wir müssen sofort los.« Sie stellte den Koffer ab und kam wieder zurück. »Los, los, los! Zieht euch an!«
Ich nahm Milads Hand und half ihm hoch. Wieso ausgerechnet heute, fragte ich mich, während wir uns die Klamotten überzogen. Seit Tagen passierte nichts und gerade jetzt, kurz vor dem Rennen, musste es losgehen.
Als wir drei fertig waren, folgten wir Madar in den Flur, zogen rasch unsere Schuhe an und schon liefen wir Richtung Metalltor.
»Madar, ich will mich nur kurz verabschieden«, sagte ich und war schon auf dem Weg in den Keller, wo die Tschar-tscharche parkten, da unterbrach mich ihre aufgebrachte Stimme: »Nein! Ich habe gesagt, wir haben keine Zeit. Komm sofort zurück!«
Es kam sehr selten vor, dass Madar so mit uns redete. Ich fühlte mich gedemütigt und machte auf dem Absatz kehrt. Mit hängendem Kopf folgte ich den anderen zum Tor, wo ein kleines Licht brannte und Amu Haschem und Chaleh Laleh auf uns warteten. Während sie uns zum Abschied umarmten, versuchten sie tröstende Worte zu finden. In Deutschland werde alles besser, sagten sie. Mein Blick blieb am Banner an der Wand hängen, das die Startposition für das Rennen markierte. »Jeden Tag, nur nicht heute«, flüsterte ich vor mich hin. Da zog es an meinem Arm. Ich wurde in das Ajans gezerrt, ohne den Blick vom Banner abzuwenden. »Flughafen Mehrabad, bitte. Darbast «, hörte ich Madar zum Taxifahrer sagen. Sofort heulte der Motor auf und wir fuhren davon.
Die kleine Digitaluhr im Auto zeigte vier Uhr zwanzig an. Es war immer noch völlig dunkel. Milad und Masoud saßen neben mir und hielten Käsebrote in der Hand, die uns Chaleh Laleh eingepackt hatte. Milad streckte seine Hand aus und bot mir eins an. Ich schüttelte trotzig den Kopf und schaute weg. Da spürte ich, wie er seinen Kopf an meine Schulter legte und mir erneut das Brot hinhielt. Ich wusste, dass er mindestens genauso traurig war wie ich, vielleicht sogar noch mehr. Deshalb legte ich meinen Arm um seine Schultern und nahm das Brot an.
Da die Straßen noch leer waren, erreichten wir schnell den Flughafen. In der großen Empfangshalle erwartete uns ein Mann mit grauem Anzug und weißem Hemd. Er nickte Madar zu und zog sie zur Seite, ohne uns dreien Beachtung zu schenken. Einige Schritte von uns entfernt unterhielten sie sich konzentriert. Mir gefiel er nicht: Sein grau meliertes Haar und der Ziegenbart erinnerten mich an einen unserer Lehrer, der für seine Prügelstrafen gefürchtet war. Alle Schüler hassten ihn.
Als sie fertig waren, erklärte uns Madar die nächsten Schritte: »Das ist Agha Reza.« Sie deutete mit dem Kopf in seine Richtung.
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