Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
wie mein Bruder vom Kummer innerlich aufgefressen wurde. Eine letzte Chance blieb noch: Christa. Ich ging zur öffentlichen Telefonzelle im Asylbewerberheim – wir durften daheim kein eigenes besitzen –, wählte ihre Nummer und erzählte ihr von meinem erfolglosen Plan. Sie versprach zu helfen.
Nicht einmal zwei Stunden waren vergangen, da hörte ich ein Klopfen. Als ich die Wohnungstür aufschloss, stand Christa lächelnd vor mir – mit einem Kasten in der Hand, den sie mir entgegenstreckte. Ich öffnete ihn und sah darin eine wunderschöne dunkelbraune Geige mit filigranen Verzierungen. »Das war mal meine«, sagte Christa und lächelte. »Als Kind habe ich ein paar Jahre gespielt. Aber ich habe die Lust verloren und jetzt verstaubt sie nur im Keller.« Fassungslos sprang ich auf und ab, jubelte und umarmte sie. Dann nahm ich die Geige vorsichtig in die Hand und begann, den Bogen über die Saiten zu ziehen. Sie vibrierten und es quietschte fürchterlich. Aber darum ging es nicht. Ich schaute in Richtung Fenster und tatsächlich – Milad wandte sich uns zu, und seit einer gefühlten Ewigkeit sah ich zum ersten Mal wieder ein zaghaftes Lächeln in seinem Gesicht. »Für dich«, flüsterte ich und erwiderte sein Lächeln. Er kam herüber und nahm sein Instrument in die Hand. Das Eis war gebrochen.
Die Geige, so schien es, gab nicht nur Milad das Lachen zurück, sie brachte uns allen Glück: Bald darauf ließ sich das Gericht von der Argumentation unseres Anwalts überzeugen und traf eine Entscheidung. Madar wurde von Pedar geschieden und Milad durfte bei uns bleiben.
6
Das Ti-MMM
MOJTABA »Beruhige dich«, flüsterte ich mir zu. »Beruhige dich. Alles wird gut!« Meine Lippen schienen wie ausgetrocknet. Das Schlagen meines Herzens fühlte ich am Kehlkopf. Auf der anderen Seite des schwarzen Vorhangs wurde laut und wild geredet. Ich versuchte auszumachen, wie viele Menschen wohl gekommen waren. Dreißig? Vierzig? Vielleicht sogar fünfzig? Meine Augen suchten nach der Bierflasche, die ich zur Beruhigung leeren wollte, bevor es ernst wurde, aber ich konnte sie inmitten der Kabel und Kisten nicht finden. Stattdessen blieb mein Blick bei den Jungs hängen: Masoud spielte aufgeregt am Lautstärkeregler seiner E-Gitarre, Milad spannte nochmal den Bogen seiner Geige und Timo zupfte unablässig an der dicken Saite der Bassgitarre. Wären wir alle nicht dermaßen aufgeregt gewesen, hätten wir richtig gut ausgesehen. Milads dunkelbraune Haare passten zu seinem glänzenden Instrument, Masouds schulterlange Locken ringelten sich um seinen Kopf und hüpften hin und her, wenn er ihn bewegte. Und Timo mit seiner schneeweißen Haut und den hellblauen Augen strahlte förmlich, wenn er zwischen uns dreien stand. Doch darum ging es hier nicht. Heute war schließlich unser allererster Auftritt und es galt nur, ohne größere Patzer durchzukommen.
Dann knackten die Lautsprecher mehrere Male und ein verzerrtes und pfeifendes »Test, Test. Eins, zwei« dröhnte heraus. Die Menge schrie auf.
»Verdammt, Dario! Dreh das Mikro leiser!«, zischte ich durch die zusammengebissenen Zähne.
»Hallo Leute!«, erklang wieder Darios Stimme. Dieses Mal ohne alle Ohren zu betäuben. »Verzeiht dem Mikrofon, es hat ’nen schlechten Tag.« Viele lachten auf. Der Witzbold machte sich gar nicht so schlecht auf der Bühne.
»Schön, dass ihr alle dabei seid. Wir hatten nicht mit so vielen gerechnet. Aber ich komme lieber zum Punkt, bevor das Piepen wieder anfängt: Heute Abend trauen sie sich endlich aus dem dunklen Proberaum auf die Bühne. Hier ist ›Das Ti-MMM‹. Viel Spaß zusammen!«
Die Zuschauer klatschten anhaltend, sie wollten uns wohl wirklich auf der Bühne sehen. Würden bloß meine Hände aufhören zu flattern! Mein Kopf glühte, aber meine Finger fühlten sich kalt und steif an. Ich brauchte sie doch jetzt mehr denn je. Lasst mich jetzt bloß nicht im Stich , flehte ich sie an und kam mir dabei selbst lächerlich vor. Es gab eigentlich überhaupt keinen Grund, nervös zu sein. Ich war schon mit viel Schlimmerem fertig geworden. Damals, als wir vor fünf Jahren mit einem Schlepper am Teheraner Flughafen gestanden hatten, während iranische Grenzbeamte unsere gefälschten Pässe kontrollierten. Ein elfjähriger Knirps, der ich war. Heute, mit sechzehn, sollte ich mich doch erst recht unter Kontrolle haben. Außerdem ging es hier nicht um irgendwelche Anträge und Sachbearbeiter, es ging nicht um meinen ersten
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