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Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Titel: Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mojtaba Milad; Sadinam Masoud; Sadinam Sadinam
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Recht, beruht auf drei Säulen: dem Koran, der Sunna – den überlieferten Aussprüchen und Verhaltensregeln des Propheten Mohammad – und dem Fiqh , der offiziellen islamischen Rechtsschule. Diese Rechtsauffassung gestattet dem Mann, sich jederzeit und ohne Grund von seiner Frau scheiden zu lassen. Der Frau aber erlaubt sie den Talaq  – die Scheidung – nur, wenn der Mann deutlich gegen den Ehevertrag verstößt. Oder wenn einer der folgenden Gründe vorliegt: das Verschollensein, das Verlassen der Familie, Unterhaltsverweigerung, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit, Verurteilung zu einer Haftstrafe, andauernde Beleidigungen und das Schlagen der Ehefrau, Impotenz oder Zeugungsunfähigkeit, Geistes- oder schwere körperliche Krankheit sowie die Heirat einer zweiten Frau ohne Zustimmung der ersten. Nur unter diesen Voraussetzungen stand es also Madar zu, die Ehe aufzulösen – ein aussichtsloses Unterfangen.
    Als Pedar noch dazu versuchte, das Sorgerecht für Milad zu erhalten, fühlten auch wir Brüder uns angegriffen. Milad war noch keine fünfzehn Jahre alt und nach dem iranischen Gesetz minderjährig. Bei einer Scheidung hätte Pedar einen Anspruch darauf, ihn zu sich zu holen.
    Unsere ganze Hoffnung lag nun wieder auf unserem Anwalt, Herrn Stern. Er musste die Gerichte davon überzeugen, dass wir nicht aus unserer früheren Heimat geflohen waren, um hier denselben üblen Gesetzen ausgeliefert zu sein. Und er tat alles in seiner Macht Stehende: Er rief gegen die Entscheidung die nächsthöhere gerichtliche Instanz an und argumentierte, dass wir als anerkannte Asylsuchende die Rechtsstellung von Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention besäßen. Deshalb gälten für uns die deutschen Gesetze. Außerdem widerspreche das iranische Recht der im Grundgesetz verankerten Gleichstellung der Geschlechter.
    Bevor es allerdings zu einer endgültigen Entscheidung kam, hatten die Sorgen um seine Zukunft Milad schon vollends in ihren Bann gezogen. Er starrte aus dem Fenster, als erwartete er jeden Moment die unausweichliche Ankunft schlechter Nachrichten. Er hatte bereits früher eine ähnliche Erfahrung gemacht: Kurz nach seiner Geburt hatte Madar ihn widerwillig in die Obhut Chaleh Maryams gegeben, weil sie mit drei Kleinkindern völlig überfordert war. Erst als er eines Tages Madar nicht mehr als seine eigene Mutter erkannt hatte, hielt sie es nicht mehr aus und holte ihn trotz aller Schwierigkeiten zurück.
    Auch ich konnte mir einfach nichts anderes vorstellen, als dass Milad bei uns blieb. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie wichtig er für mich war. All die Jahre hindurch hatte ich Mojtaba als meinen engsten Gefährten angesehen. Nun aber erkannte ich, dass auch Milad unentbehrlich zu meinem Leben gehörte. Verblasste Bilder aus unserer gemeinsamen Zeit gewannen wieder an Schärfe: das Fußballspielen in Ekbatan, das Buddeln in Schahmirzad und die Tschar-tscharche . Gerade Milads Andersartigkeit innerhalb unseres Dreiergespanns machte ihn so besonders.
    Ich redete mir ein, dass Herr Stern das Gericht schon überzeugen würde, und wollte auch Milad irgendwie aufmuntern, aber selbst der verspielte Hund Floppy, jede Menge blöder Witze und noch mehr Süßigkeiten hatten ihn nicht aus der Reserve locken können. Da fiel mir etwas ein: Jedes Mal, wenn Madar im Iran eine Videokassette von Marzieh, einer der berühmtesten iranischen Sängerinnen, abspielte, stellte sich Milad neben dem Fernseher auf und begann den Violinisten nachzuahmen. Er hob die Arme und schwang seinen unsichtbaren Bogen voller Inbrunst über die imaginäre Geige, während er den Kopf heftig hin und her bewegte. Schon als kleiner Junge wollte er eines Tages hinter Marzieh stehen und der Violine wunderbare Melodien entlocken. Ich war mir sicher, dass eine Geige Milad glücklich machen würde. Aber wo sollte ich bloß eine Geige auftreiben? Ich besaß kaum Geld. Selbst wenn ich Madar und Mojtaba um all ihre Ersparnisse bitten würde, wäre es noch lange nicht genug. Ich schnappte mir meine Jacke und rannte raus. Mit meinem Fahrrad klapperte ich alle Orte in der Stadt ab, an denen ich glaubte, an eine günstige Geige heranzukommen. Die Kleiderkammer, die alles Mögliche für Asylbewerber anbot, die Musikschule und die Regionalzeitung, in der Hoffnung auf die richtige Anzeige. Doch vergebens. Als ich mein Fahrrad unverrichteter Dinge über den Hof schob, sah ich Milad wieder am Fenster. Es war kaum auszuhalten, mit anschauen zu müssen,

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