Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Deutschaufsatz, als ich noch kaum ein Wort dieser Sprache beherrscht hatte, nein, ich musste nur ein paar Lieder zupfen. Und ich kannte jeden Takt in- und auswendig. Das sollte doch ein Kinderspiel werden!
Mit einem energischen Schritt trat ich durch den Schlitz im Vorhang. Die anderen folgten mir.
Ungefähr vierundzwanzig Stunden zuvor, an einem warmen Donnerstagabend, klapperten gegen Mitternacht zwei Einkaufswagen über eine unbefahrene Kreuzung. Der eine war beladen mit einem Monitor, einem Computer und allerhand Zubehör; in dem anderen saß Milad. Masoud und Dario schoben ihn mit einem Affenzahn durch die Gegend und er jauchzte wie ein verrückter Schiffskapitän im tosenden Sturm. Timo und ich sausten mit dem zweiten Wagen hinterher. Wir lachten und tollten herum wie Kinder, wie in unserem früheren Leben mit unserem Freund Farroch. Wie vor einer Ewigkeit. Endlich, nach fünf langen Jahren in Deutschland, hatten wir echte Freunde gefunden: Dario und Timo. Sie waren Brüder in unserem Alter und wohnten nicht weit von uns entfernt. Fast jeden Nachmittag unternahmen wir gemeinsam etwas.
Heute hatten wir uns zum Computerspielen bei den beiden zu Hause getroffen. Hatten die letzten vier Stunden mit aufgerissenen Augen und rasendem Puls vor unseren Monitoren gekauert und uns in einen flimmernden Rausch geklickt. Ohne Probleme hätten wir die Nacht durchgemacht, aber morgen stand Schule an. So mussten wir schweren Herzens unsere Rechner herunterfahren. Und da wir kein Auto besaßen, hatten wir alles in Einkaufswagen vom benachbarten Supermarkt gepackt und rollten nun zurück zu unserer Wohnung.
Dario und Timo gehörten zu den wenigen Menschen, die ich mit nach Hause nahm, ohne mich dabei zu schämen. Denn es verschlug ihnen nicht die Sprache, dass wir drei in einem Zimmer schliefen, und sie setzten sich auf unsere alten Möbel, ohne sich so unwohl zu fühlen, als säßen sie auf einem Zahnarztstuhl. Sie waren einfach da, wir hockten zusammen, plauderten und blödelten herum.
Masoud und ich hatten Timo im Fußballverein kennengelernt. Er spielte bei SC Preußen Lengerich als Libero und wir trafen ihn zweimal pro Woche beim Training. Er war etwas kleiner als wir, dafür aber flink und wendig. Alle gegnerischen Stürmer machten einen großen Bogen um ihn. Wie ein regelrechter Fan bewunderte ich seine Ballkünste und war ganz aus dem Häuschen, als Masoud und ich beim ersten Ligaspiel die Außenverteidigerpositionen neben ihm besetzen durften. Zu dritt errichteten wir geradezu ein Bollwerk gegen die feindlichen Angriffe. Von da an nannte uns Timo »Die Zerstörer«.
Milad und Dario gingen in dieselbe Klasse, und ziemlich schnell merkten sie, dass sie eine gemeinsame Leidenschaft teilten: Computer. Bald brachte Milad dicke Wälzer mit nach Hause, die merkwürdige Titel wie C++ oder Basic trugen. Er lerne Programmieren, erklärte er uns. Die Bücher habe er sich von einem großen, dunkelblonden Jungen ausgeliehen, der genauso lange an einer Platine herumschrauben könne wie er. Die beiden trafen sich, tüftelten an unserem alten Rechner herum und ließen ihn lustige Geräusche von sich geben. Aber niemand ahnte, dass Dario und Timo Brüder waren. Erst als sie eines Tages gemeinsam vor unserer Tür standen und wie Honigkuchenpferde grinsten, wurde uns der Riesenzufall bewusst.
So wuchsen wir immer mehr zusammen. Nicht nur durch Sport und Computer. Wir entdeckten auch die Musik für uns. Milad spielte bereits seit einiger Zeit Geige und sein Enthusiasmus steckte uns an. Wir durchstöberten Musikzeitschriften und Zeitungsannoncen nach gebrauchten Instrumenten, die wir bezahlen konnten. Masoud und ich entschieden uns für E-Gitarren, Timo griff zur Bassgitarre und sein Bruder zu einem Keyboard. Mit unseren neuen Lieblingen saßen wir regelmäßig zusammen und klimperten herum. Nur Dario verlor schnell die Lust an den Tasten. Trotzdem ließ er sich das Proben nicht entgehen und war von da an unser persönlicher Musikkritiker. Auch er war es, der die grandiose Idee für einen Bandnamen hatte. Er kürzte unsere vier Vornamen auf ihre Anfangsbuchstaben und nannte uns »Das Ti-MMM«.
Die Einkaufswagen ratterten weiter und wir erreichten die Straße, die zu unserer Wohnung führte. Vom vielen Rennen schnauften wir heftig.
»Jungs, das nenn ich einen super Abend«, keuchte Timo und gab mir einen Klaps auf den Rücken.
»Obwohl du nur verloren hast?«, stichelte ich.
Bevor er sich verteidigen konnte, half ihm Milad:
Weitere Kostenlose Bücher