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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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sonderbaren Bahnen kreuz und quer durchs Zimmer. Er hätte nicht zum Netz hingezogen werden sollen. Der ruckhafte Schmetterlingsflug hierhin und dorthin hätte ihn dazu bringen müssen, ihm zu entgehen. Aber das Netz war gnadenlos, als würde er davon angesogen. Und schließlich saß er fest. Mitten im Netz. Ohnmächtig flatternd.
    Sie beobachtete den ohnmächtigen Todeskampf des Apollofalters. Sollte sie eingreifen? Sollte sie ein Teil der Natur sein und eingreifen? Oder sollte sie tun, was die Natur tat, außerhalb stehen und beobachten? Und damit wirklich ein Teil der Natur sein?
    Es war Zeit, sich einzugestehen, dass die Schlacht verloren war, und nach Hause zu gehen. Zeit, Anders und Viktor abzuholen, sich dem strömenden Regen im Vitabergspark auszusetzen und sich durch Anders’ erstes Mittsommerfest in Stockholm hindurchzuquälen.
    Anders, dachte sie und sah zu dem Schmetterling im Netz auf.
    Der vernachlässigte Sohn.
    Sie blickte hinunter auf Lars-Inge Runströms Versuch, den Mann zu beschreiben, den er in der Garage gesehen hatte. Das Wesen. Ein Wort fiel ihr ins Auge. ›Pferdeschwanz‹.
    Dann kam eine andere Bemerkung in eigenartigen Mustern durch die Luft geflattert. Und wurde direkt zu ihr hingesogen.
    Sie saß mit Paul Hjelm in ihrer Wohnung. Es war vollkommen still, als ob der Luftraum der ungepflegten Wohnung von anderem erfüllt wäre als dem Staub, der die ganze Zeit aufgewirbelt wurde.
    Es war der Moment, als Paul Hjelm sagte: »Ich glaube, er ist irgendwo ganz in unserer Nähe.«
    Ein zutiefst ungutes Gefühl durchfuhr sie, während sie weiter auf den Falter starrte, der unverdrossen im Netz flatterte. Als gäbe es einen Ausweg. Sollte sie wirklich …?
    Doch, sie tat es. Sie rief zu Hause an.
    Keine Antwort. Sie ließ es zehnmal klingeln, doch niemand nahm ab.
    Es musste nichts zu bedeuten haben.
    Und es war, als käme das Flügelschlagen immer näher.
    Dann wählte sie eine andere Nummer. Nach achtmaligem Klingeln bekam sie Antwort. »Ja, hier ist Lotta.«
    »Bin ich richtig beim Kungsholmen-Gymnasium?«
    »Ja, Studienrektorin Lise-Lotte Kamberg.«
    »Hier ist Kerstin Holm von der Reichskriminalpolizei. Ich müsste mit jemandem über Ihr Personal sprechen.«
    »Ich höre.«
    »Ich möchte wissen, ob bei Ihnen ein Viktor Ljungström angestellt ist. Lehrer für Schwedisch und Mathematik.«
    »Den Namen kenne ich nicht. Nein. Ich arbeite gerade an den Stundenplänen, habe also einen ziemlich guten Überblick.«
    »Sind Sie sicher? Es ist wichtig.«
    »Ich suche nur eben die Anstellungsliste heraus. Einen Augenblick bitte.«
    Ein schrecklicher Augenblick.
    Dann kam die Studienrektorin wieder ans Telefon: »Nein«, sagte sie. »Wir haben keinen Viktor Ljungström hier. Überhaupt keinen Viktor.«
    Kerstin legte auf. Ihr Herz begann zu pumpen. Sie hatte das schon einmal erlebt.
    Anders.
    Anders mit Viktor allein zu Hause. Keine Antwort am Telefon. Und Viktor war nicht der, für den er sich ausgab.
    Der Pferdeschwanz in der Tiefgarage von Kalastelevision.
    Sie lief. Sie stürzte durch die Flure und die Treppen hinunter zur Polizeigarage. Sie warf sich in ihren Dienstwagen und gab Gas. Der Wagen flog hinaus auf die Bergsgata, die Scheelegata hinunter, weiter durch die Fleminggata, in den Kreisverkehr von Kungsbron und die Kungsgata hinauf.
    Die Blindheit der Liebe, dachte sie und fuhr bei Rot über die Ampel an der Vasagata. Stockholms Straßen waren mittsommerleer. Als wäre die Stadt verlassen.
    Oder die Blindheit der Sexualität.
    Verdammt, verdammt, verdammt. Wenn sie jetzt zu spät kam. Wenn sie wieder zu langsam gedacht hatte.
    Auf der Kreuzung von Sveavägen wäre sie fast mit einem Bus zusammengestoßen. Sie stellte den Wagen an einer Bushaltestelle ab und lief wild quer über die Kungsgata. Stürmte die Treppen zur Regeringsgata hinauf und erreichte ihre Haustür. Mit zitternden Fingern tippte sie den Türcode ein und sprang mit einer Schnelligkeit, die sie selbst überraschte, die Treppen hinauf.
    Dann stand sie vor der Wohnungstür und fummelte mit dem Schlüsselbund herum. Von drinnen kein Laut. Der Schlüssel wollte sich nicht greifen lassen. Die Zeit verging.
    Sie bewegte sich in Treibsand. Die Sekunden kamen ihr vor wie Peitschenhiebe ins Gesicht. Und alles war zu spät. Alles war zu spät. Sie bekam die Tür auf und stürzte hinein.
     
    Sie lief durch die Wohnung. Es waren furchtbare Schritte. Dann stieß sie die Schlafzimmertür auf. Er saß da und betrachtete das Kind. Dann wandte

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