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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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zur Witwe Krzosek sagte: ›Sie sind eine partiell durchsichtige Frau.‹
    »Mein Mann ist bei mir«, antwortete die Witwe mit dünner Stimme. »Wir sitzen wie immer jeden Abend hier am Tisch und unterhalten uns. Er erzählt aus dem Jenseits. Da gibt es Gutes und Schlechtes. Alles ist ziemlich ähnlich. Er sagt, ich soll zu ihm kommen, wann ich es selbst will. Was ihn betrifft, können wir uns auch jeden Abend hier treffen. Es ist genauso wie zu seinen Lebzeiten.«
    »Haben Sie jemals den Verdacht gehabt, dass etwas mit dem Tod Ihres Gatten nicht stimmte?«, fragte Jon Anderson.
    »Ja, natürlich«, sagte die Witwe Krzosek und starrte ihn aus ihrer Schattenzone heraus an.
    »Natürlich?«, platzte Cazapiewski heraus.
    Die semitransparente Witwe sagte: »Mein Mann ist ermordet worden. Von der Krankenschwester auf der Station.«
    Die beiden Polizisten wechselten Blicke.
    »Woher wissen Sie das?«, fragte Anderson unverhohlen verblüfft.
    Die Witwe Krzosek sah ihm weiter mit ihrem diffusen Blick in die Augen und sagte: »Das hat Artur mir gesagt. Als er am Abend, an dem er gestorben war, zu mir kam, sagte er: ›Man muss sie verstehen. Sie verdient nicht genug, die Ärmste. Und ich wäre ja sowieso bald gestorben.‹«
    »Haben Sie Ihren Kindern davon erzählt?«
    »Wir haben darüber gesprochen. Mein jüngster Sohn glaubt, dass ich verrückt bin. Meine Tochter glaubt, dass ich eine heilige Person bin. Und mein ältester Sohn wurde zornig.«
    »Wie zornig?«
    »Sehr zornig.«
    Das Polizistenpaar fuhr weiter zu den Hinterbliebenen der Fabrikarbeiterin Irina Zazawska. Ihre vier Kinder schienen in sehr dichter Folge entstanden zu sein. Zwischen dem Ältesten und dem Jüngsten lagen höchstens vier Jahre, und das Älteste ging noch nicht zur Schule. Sie saßen am Küchentisch bei einer Art von Zwischenmahlzeit. Anderson betrachtete den Großvater, einen ausgemergelten kleinen Weltkriegsveteranen, der den linken Arm verloren und Granatsplitter im Kopf hatte. Metallstücke ragten aus der Glatze auf. Es sah aus, als könnte er jeden Augenblick explodieren. Wie eine freigelegte Granate aus dem Zweiten Weltkrieg.
    »Und Sie versorgen die Kinder ganz allein, Herr Kohutek?«
    Der Alte zuckte mit den Schultern und sagte: »So gut es geht. Die Nachbarin hilft mir ein wenig. Und es sind so liebe Kinder. Sie helfen sich gegenseitig.«
    »Was ist denn mit dem Vater? Hilft er nicht?«
    Großvater Kohutek vollführte eine resignierte Geste.
    »Er lebt in Warschau und hat eine neue Familie. Zwei Kinder. Er tut so, als hätte er überhaupt nie in Poznán gelebt. Als ob es diese vier hier gar nicht gäbe.«
    »Er zeugt Kinder in ziemlich dichter Folge.«
    »Er ist ein guter Katholik«, sagte Kohutek mit vielsagender Miene.
    »Haben Sie nie den Verdacht gehabt, dass mit dem Tod Ihrer Tochter etwas nicht stimmte?«
    Kohutek bedachte Jon Anderson mit einem scharfen Blick. Es bestand kein Zweifel, dass dieser kleine Invalide vollauf in der Lage war, vier kleine Kinder aufzuziehen. Er hatte alles eisern im Griff.
    »Polen funktioniert nicht richtig«, sagte er.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Die Krankenpflege ist nicht gut. Irina war auf dem Wege der Besserung, der Krebs ging zurück. Sie erkannte die Kinder wieder. Sie konnte aufstehen und spazieren gehen. Die Ärzte sagten, ihre Prognose sei gut. Plötzlich starb sie.«
    »Hatten Sie den Verdacht, dass ein Verbrechen der einen oder anderen Art vorlag?«
    »Die öffentliche Krankenversorgung ist zu schlecht«, sagte Kohutek. »Das ist ein Verbrechen.«
    Sie fuhren weiter zum ältesten Sohn des Lehrers Artur Krzosek. Dem ›sehr zornigen‹. Er war um die dreißig und lebte allein in einem Plattenbauviertel der alten Ostsorte. Ebenso riesig und einförmig wie trostlos und geisttötend. Anderson empfand geradezu Widerwillen dagegen, die Abscheulichkeit zu betreten. Als liefe er Gefahr, angesteckt zu werden.
    Wojtek Krzosek roch schlecht. Er roch nach Mann, wenn der Mann am schlimmsten riecht. Es war ekelerregend. Anderson hielt sich die Nase zu, wenn er glaubte, dass keiner hinsah.
    »Was für eine Arbeit haben Sie?«, fragte er.
    Wojtek Krzosek starrte den armen Dolmetscher Cazapiewski mit offenem Mund an, als hätte der und nicht der lange Schwede den Verstand verloren.
    »Finden Sie, dass es hier aussieht, als ob ich Arbeit hätte?«, fragte er schließlich.
    Cazapiewski nannte ungefragt eine Arbeitslosenquote, die fast durch Andersons Glaskäfig drang. Aber nur fast.
    »Wie lange geht das hier

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