Ungeschoren
sagte Jon Anderson. »Deshalb hat die Polizei erst spät geschaltet. Sie glaubten, Poznán sei verschont geblieben. Sie wollten sicher sein, bevor sie weitere Ermittlungen anstellten. Sie haben das Ganze sehr professionell gehandhabt.«
»Du hörst dich ja richtig positiv an.«
»Hm.«
»Ist jemand mehr als nur potenziell verdächtig?«
»Möglicherweise der Sohn eines an Krebs gestorbenen Lehrers und einer Heiligen.«
»Das hört sich nach nervigen Genen an.«
»Er heißt Wojtek Krzosek. Etwa dreißig. Der Tod seines Vaters hat ihn ziemlich mitgenommen, nicht zuletzt weil er gleichzeitig arbeitslos wurde.«
»Ausgezeichnet. Mach ein paar Tage weiter. Ich habe gerade die Liste der Telefonate bekommen, die in Elzbieta Kopanskas Wohnung in Huddinge eingegangen sind. Es gibt zwei polnische Nummern, die zu der Zeit passen, als sie ein Gespräch auf Polnisch entgegengenommen hat, das sie in Angst versetzte. Aber es ist auch ein Anruf aus Deutschland dabei und zwei schwedische. Von einer Telefonzelle in Helsingborg und aus einem Motel in Linköping. Ich maile dir die Nummern. Es ist jetzt fünf Uhr. Ich wollte bald nach Hause gehen und meinen Sohn abholen. Wann kannst du deine Mail schicken?«
»Das kommt auf den Verkehr an«, sagte Jon Anderson und schaute durch die Windschutzscheibe hinaus. Immer noch Stillstand. Eine Ansichtskarte aus Poznán, dachte er ungerecht.
»Ich warte eine halbe Stunde«, sagte Kerstin Holm.
»Sonst eben morgen.«
Kommissar Marek Wojcik hatte Feierabend gemacht, als sie eine Viertelstunde später ins Polizeipräsidium kamen. Die Bewegungen des Kriminalassistenten Rafael Cazapiewski waren etwas gehetzt, als er seinem schwedischen Kollegen einen Computer zeigte, ihn instruierte und die am Tag aufgenommenen Bilder von der Digitalkamera auf die Festplatte überspielte.
»Hast du es eilig, Krackilewski?«, fragte Anderson.
»Ich habe um sechs ein Fußballspiel«, sagte Cazapiewski leicht verlegen.
»Spielst du Fußball?«, entfuhr es Anderson.
»Spielmacher in einer Mannschaft der dritten Liga. Poznán-Polizei-FC.«
»Bei der WM hat Polen nicht gut abgeschnitten, was, Krokodilski?«
»Na ja«, brummte Cazapiewski.
»Geh nur«, sagte Anderson.
Nachdem er seinem Fräulein Kommissarin eine Mail geschickt und seinerseits eine erhalten hatte, machte er sich auf den Weg, um ein Hotel in der Nähe zu suchen. Er hatte Glück. Er fand eine richtige Absteige, die eine ansehnliche Menge Prostituierte zu beherbergen schien. ›Von allem das Billigste‹, wie die Schlampe Holm gesagt hatte.
Jon Anderson machte einen Spaziergang in der näheren Umgebung und fand ein Restaurant, das annehmbar zu sein schien. Er aß ein ziemlich rohes Beefsteak und trank zwei Bier dazu. Kommissar Marek Wojtics brauner Blick drang langsam ins Innere des Glaskäfigs. Ein kleines, kleines Tier begann sich in seinem Innern zu regen.
Er überlegte, was die nächste Zukunft bringen sollte, und fasste einen Beschluss. Eine vage Erinnerung trieb ihn zu einem großen Marktplatz in der Nähe von etwas, was Garbary hieß. Skorpio Pub lag etwas versteckt, getarnt, aber er erkannte es auf der Stelle wieder. Es war Dienstag und Themenabend. Voll von Männern in allen erdenklichen Kostümierungen. Er ließ sich an einem Tisch nieder und trank noch ein Bier. Vorn auf einer kleinen Bühne nahm der Themenabend seinen Anfang. Der Geräuschpegel stieg beträchtlich. Ein gut gekleideter blonder Junge mit gelöstem Schlips betrat die Bühne, und Anderson begriff, welches das Thema des Abends sein würde. Sein Blick blieb an dem blonden Jüngling hängen, der sich langsam eines Kleidungsstücks nach dem anderen entledigte, bis nur noch ein minimaler Stringtanga übrig war.
Vor fünf Jahren war Jon Anderson hier glücklich gewesen. Er hatte mitten im Menschenmeer gestanden, sich zu den Eurodiskorhythmen gewiegt und überall Körper gefühlt. Ein Ozean von Körpern wie sein eigener, geprägt von seinen Erfahrungen, bebend vom mühsam eroberten Freiheitsglück. Aber jetzt war die Lage eine andere. Nichts war mehr wie damals. Er wollte nicht mehr Hüfte an Hüfte mit lächerlichen Transen und Ledermachoschnauzern dastehen. Er wollte nicht einmal mehr hinuntergehen in den Keller, Skorpio Night, in das vibrierende, dröhnende, muffige Inferno der Darkrooms.
Aber der Schauer, der ihn vom Kopf her durchzuckte und den Unterleib traf wie eine Bombe, als der blonde Jüngling sich aus dem Stringtanga wand, war nicht zu verkennen.
Das Tier in
Weitere Kostenlose Bücher