Ungeschoren
Berufsgruppe in Polen die Ärzte sind, dicht gefolgt von den Verkehrspolizisten.«
»Einen Hinweis zu geben ist eine Sache, zu morden eine ganz andere.«
»Ja«, sagte Marek Wojcik und umfing Jon Anderson mit seinem starken nussbraunen Blick. »Eine ganz andere. Polnische Krankenpfleger sind keine Mörder. In der Regel leisten sie trotz schlechtester Bedingungen eine hervorragende Arbeit.«
Anderson riss sich aus der Umklammerung des Blicks los und sagte: »Ich möchte die Familien der drei ›verdächtigen‹ Todesfälle gern treffen.«
»Das habe ich vermutet«, sagte Wojcik sanft und überreichte ihm das Blatt. »Hier sind die Anschriften von Pawel Wlodarczyks Ehefrau, von Artur Krzoseks Ehefrau und die der drei erwachsenen Kinder und von Irina Zazawskas Vater, der sich um ihre vier kleinen Kinder kümmert. Im Nebenzimmer wartet Kriminalassistent Rafael Cazapiewski, der mit einem Polizeiwagen und seinen Englischkenntnissen zu Ihrer Verfügung steht. Er hat auch eine Digitalkamera bei sich, um die Verwandten unbemerkt zu fotografieren. Ich hoffe, das Arrangement sagt Ihnen zu, Mister Anderson.«
»Ausgezeichnet«, erwiderte Jon Anderson und stand auf. Der Kaffee in seinem Magen erwachte zu neuem Leben und verursachte eine erstaunliche Serenade von Knurrgeräuschen.
Marek Wojcik ergriff seine ausgestreckte Hand und sagte:
»Vielleicht wäre es angebracht, mit einem Mittagessen anzufangen.«
So ergab es sich, dass Jon Anderson den Rest des Tages damit verbrachte, in einem alten Saab durch Poznán zu kutschieren und mit Verwandten der potenziellen Opfer der Krankenschwester Elzbieta Kopanska zu sprechen. Er hätte vielleicht Entsetzen empfinden sollen über die Taten, aber es gelang ihm nicht, etwas zu empfinden. Alles, was er fühlte, war Zielbewusstheit – und eine zunehmende körperliche Unruhe, die er so gut kannte. Zumal als der Saab eine ihm gut bekannte Stelle passierte, den Eingang eines Parks.
»Was ist das hier?«, fragte Jon Anderson.
Kriminalassistent Rafael Cazapiewski warf einen kurzen Blick zum Beifahrersitz hinüber und wechselte mit der lässigen Präzision der Routine die Fahrspur in dem Wahnsinnsverkehr. »Der Marcinkowskiegopark«, sagte er. »Wieso?«
Jon Anderson nickte nur.
Bei vier der sechs Adressen war jemand zu Hause. Zwei der drei erwachsenen Kinder des krebskranken Lehrers Artur Krzosek waren nicht da, dagegen seine Frau und sein ältester Sohn, ebenso der Vater der Fabrikarbeiterin Irina Zazawska und die unglaubliche Admiralswitwe Wlodarczyk. Letztere war eine vitale Sechzigjährige, die Gigolos ›abonnierte‹. Man konnte beim besten Willen nicht behaupten, dass sie um ihren dementen, um zwanzig Jahre älteren Ehemann trauerte.
»Was heißt ›abonnieren‹?«, fragte Jon Anderson verblüfft.
»Das ist ein Internetservice«, ließ die Admiralin durch den etwas peinlich berührten Cazapiewski antworten.
»Man macht Kreuze auf einem elektronischen Formular, und eine Stunde später hat man einen kleinen Leckerbissen im Haus. Gerade passend, um sich vorzubereiten, nicht wahr?«
Anderson fand, dass die Admiralin ein wenig zu tief in seine Augen blickte. Und Cazapiewskis Tonfall, als er sagte ›don’t you think?‹ war ihm auch zu vielsagend. Ihn zog es nur in eine einzige Richtung. Zum Marcinkowskiegopark.
»Hatten Sie je das Gefühl, dass am Tod Ihres Gatten etwas verdächtig war?«, fragte er.
»Verdächtig fand ich, dass er so lange am Leben blieb«, erwiderte die Admiralin, als die Türklingel ging und ein wunderschöner Jüngling von etwa zwanzig Jahren eintrat.
»Ich glaube, jetzt ist es Zeit, dass die Herren uns allein lassen«, sagte die Admiralin. »Es sei denn, Herr Anderson möchte teilnehmen, was ich als einen Gunstbeweis betrachten würde.«
Die Witwe des Lehrers Krzosek war dagegen eine verschüchterte Person, durch die man geradewegs hindurchsehen konnte. Wahrscheinlich hatte sie ihr ganzes Leben im Schatten ihres Lehrer-Ehemanns zugebracht. Drei Kinder waren aus der Ehe hervorgegangen, aber man konnte sich nicht vorstellen, wer sie geboren hatte. Es war ja doch eine recht körperliche Tätigkeit.
»Den Tod gibt es nicht«, sagte sie, als sie nach langen Überredungsversuchen zum Sprechen ansetzte.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Jon Anderson durch den Dolmetscher Cazapiewski. Hin und wieder hatte er den Eindruck, dass der sehr entgegenkommende Kriminalassistent eigene Sätze erfand. Einen kurzen Moment war er vollkommen überzeugt, dass Cazapiewski
Weitere Kostenlose Bücher