Ungeschoren
warten können, dann hätten wir alle Nachforschungen für Sie erledigt. Jetzt haben wir sie auch so gemacht. Sie hätten sich die Reise sparen können.«
Aber ihr hättet es nicht so schnell gemacht, wenn ich nicht gekommen wäre, dachte Jon Anderson.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
Wojcik stellte die Kaffeetasse ab und senkte den Blick. Offenbar hatte er damit gerechnet, dass die Konversation noch ein wenig weiterginge.
Anderson spürte das und sagte: »Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, Kommissar Wojcik, aber ich habe schon in Stockholm gemerkt, dass es da etwas gibt, worüber Sie nicht richtig sprechen wollen. Warum?«
Wojcik antwortete noch immer nicht, doch er hob seinen klaren braunen Blick und richtete ihn fest auf sein Gegenüber. Dass Jon Anderson sich vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht fühlte, lag nicht nur daran, dass der Kaffee in seinem Magen hin und her schwappte wie Leckwasser in der Bilge bei starkem Sturm.
»Ich hatte einen Verdacht«, sagte der Kommissar schließlich.
Mehr kam nicht. Anderson beobachtete ihn und war verblüfft über die plötzliche Veränderung der Szene. Doch es war nicht Schuld, was er in der Haltung der nun verschlossenen Gestalt sah. Es ging nicht darum, etwas zu vertuschen, nicht darum, einen hochgestellten Diplomaten zu decken oder einem verwöhnten Diplomatensohn zu helfen, das Gesicht zu wahren. Etwas in der Art hatte er vermutet. Das war der Tonfall, den er zu erkennen gemeint hatte: den Kehrenwir’s-unter-den-Teppich-Tonfall. Befehl von höchster Stelle, die schwedische Polizei in die Irre zu führen. Um der nationalen Sicherheit willen.
Nein, das war es nicht. Nicht Schuld, sondern Scham.
Scham, nicht Schuld.
Der erfahrene Kommissar Marek Wojcik von der polnischen Kriminalpolizei saß da und schämte sich wie ein Hund vor seinem jungen, unschuldigen schwedischen Kollegen.
»Ich hoffte bis zuletzt, dass es nicht darum ginge«, sagte Wojcik schließlich und versenkte aufs Neue seinen nussbraunen Blick in dem des jungen Schweden.
Der junge Schwede schluckte schwer. »Um was nicht?«, fragte er.
Wojcik schloss die Augen und kniff sie ein paar Sekunden fest zusammen.
»Um einen polnischen Schandfleck«, sagte er.
Dann war es wieder still. Die unbarmherzigen Strahlen der nackten Sonne strömten in das kleine Büro und trugen zu Jon Andersons betrüblichem Allgemeinzustand bei. Er schwitzte, sein Magen revoltierte, und mitten in all diesem Leiden glühte eine wachsende Leidenschaft wie Lava einhundert Meter unter dem rauchenden Vulkan.
Etwas schickte sich an, geboren zu werden.
Doch nach außen war davon nichts zu sehen. Er saß vollkommen neutral da und sah aus, als verfügte er über grenzenlose Geduld. Der Widerstreit zwischen Innerem und Äußerem hätte jeden anderen Menschen zusammenbrechen lassen. Nicht so Jon Anderson. Widerstreit war sein Lebenszustand.
Schließlich sprach Wojcik: »Ein wichtiger Teil des polnischen sozialen Sicherungsnetzes heißt Sterbegeld. Die Hinterbliebenen erhalten viertausend Zloty vom Staat, um ihren verstorbenen Verwandten zu beerdigen. Ich habe ausgerechnet, dass dies in etwa zehntausend Schwedenkronen entspricht. Das ist in Polen sehr viel Geld. Aber unsere Beerdigungen sind teurer. Wir geben Unsummen dafür aus, unseren Toten einen würdigen Abschied zu bereiten.«
Marek Wojcik hielt inne und beobachtete seinen sanft lächelnden Kollegen. Nichts verriet, dass er eine Ahnung hatte, wohin die Erklärung führen würde. Aber auch nichts, dass er keine Ahnung hatte.
»Das bedeutet«, fuhr Wojcik fort, »dass wir eine sehr große Beerdigungsindustrie haben. Die Beerdigungsinstitute bilden mächtige und einflussreiche Netzwerke. Sie jagen buchstäblich Kunden. Ihre Zuträger werden ›Kopfjäger‹ genannt rekrutieren sich hauptsächlich aus Krankenwagenbesatzungen und Pflegepersonal. Menschen, die Kontakt mit den frischen Leichen haben – und die in unserem goldenen Zeitalter des freien Marktes für reine Hungerlöhne qualifizierte Arbeit leisten. Es ist schwer, der Belohnung von bis zu achtzehnhundert Zloty für ein schnelles Telefongespräch mit einem Tipp an ein Beerdigungsinstitut zu widerstehen. Nur Stunden nachdem die Angehörigen die Todesbotschaft erhalten haben, klingelt das Personal des Beerdigungsinstituts an der Tür und bietet den Trauernden seine Dienste an.«
Wieder hielt Marek Wojcik inne und warf einen verwunderten Blick auf seinen allem Anschein nach
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