Ungestüm Wie Wind Und Meer
der geliebten Großmutter, sondern im Grunde auch des Großvaters beklagte, hatten sich in ihre Seele eingebrannt. Warum, warum nur hatte sie nicht ein einziges Mal ihren Stolz überwunden und Spencer geschrieben, ihn angefleht nach Hause kommen zu dürfen? Ungezählte Male hätte sie es fast getan, aber tief verletzt von seiner augenscheinlichen Ablehnung hatte sie ihren starrsinnigen Stolz Oberhand gewinnen lassen. Von Natur aus aufrichtig, hatte sie in ihren Tanten nicht so viel Falschheit vermutet. Nie wieder würde sie jenen Glauben schenken, die behaupteten, nur ihr Bestes zu wollen. In Zukunft, das schwor sie sich, würde sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Kit betrachtete die weiße Mähne ihres Großvaters und nickte still, während er von den Nachbarn erzählte. In den vergangenen sechs Jahren hatte er sich natürlich verändert war aber immer noch eine imposante Erscheinung, und seine weitschweifigen Erzählungen ließen vermuten, dass er nach wie vor in der Landwirtschaft mitmischte und seinen Einfluss geltend machte.
Kit seufzte innerlich. Sie liebte Spencer wie sonst keinen Menschen auf der Welt. Und er liebte sie. Dennoch war er eindeutig nicht unfehlbar, bot keinen Schutz vor den Wölfen dieser Welt Nein. Wenn sie denn leiden sollte, dann lieber durch eigenes Verschulden. Von jetzt an wollte sie ihre Entscheidungen selbst treffen, ihre eigenen Fehler begehen.
Später am Abend, allein in dem Zimmer, das von jeher das ihre war, stand Kit am Fenster und blickte zum bleichen Mond hinauf. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt, noch nie so frei.
Kit staunte , wie leicht sie auf Cranmer wieder in die alte Routine zurückfand. Sie stand früh auf, ritt ihre Stute Delia und frühstückte dann mit Spencer, bevor sie ihre jeweiligen Aufgaben für den Tag in Angriff nahm. Am Nachmittag ritt sie noch einmal aus, den Abend verbrachte sie mit ihrem Großvater. Beim Nachtmahl hörte sie sich seinen Bericht über sein Tagewerk an, äußerte sich auf sein Befragen hin dazu und schob geschickt Bemerkungen ein, wenn er innehielt Es war, als wären sie niemals getrennt gewesen.
Kit nahm ihr Leben selbst in die Hand. Es hatte keinen Sinn, über die Hinterhältigkeit der Tanten zu jammern und zu wehklagen. Sie war jetzt frei - frei, sie zu vergessen. Ihr Großvater erfreute sich guter Gesundheit und war, wie sie erfuhr, bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr ihr Vormund. Die Tanten konnten sich nicht mehr einmischen. Mit der Vergangenheit würde sie keine Zeit mehr verschwenden. Ihr Leben gehörte ihr, und sie würde es bis zur Neige auskosten.
Ihre täglichen Aufgaben bestanden darin, Mrs. Fogg im Haushalt, in der Vorratskammer und der Küche zu helfen und die Pächter ihres Großvaters zu besuchen, die allesamt entzückt waren, sie wieder zu Hause begrüßen zu dürfen.
Zu Hause.
Ihr Herz wurde ganz weit, als sie über die ausgedehnten Wiesen ritt, den Himmel endlos und klar über sich, den Wind in den Locken. Delia, eine reinrassige schwarze Araberstute, war einGeschenk ihres Großvaters zu ihrem achtzehnten Geburtstag gewesen. Da er sie das Reiten gelehrt hatte und ungeheuer stolz auf ihre Künste war, hatte sie die Bedeutung des Geschenks nicht sonderlich bedacht. Jetzt erkannte sie es als den Ruf eines einsamen, wehen Herzens, einen Ruf, den sie in ihrer Unschuld nicht verstanden hatte. Daher liebte sie Delia nur noch um so mehr. Gemeinsam stoben sie über den Strand, und Delias Hufe glänzten in der Gischt. Hoch über ihnen stießen die Möwen ihre schrillen Schreie aus, und die Brandung grollte in der salzigen Luft.
Die Nachricht von ihrer Heimkehr verbreitete sich rasch. Pflichtschuldigst ertrug sie Besuche von der Frau des Pfarrers und von Lady Dersingham, der Gattin eines benachbarten Landbesitzers. Kits vornehme Anmut machte auf beide Damen Eindruck. Ihr Auftreten war sicher, ihr Benehmen perfekt. In der weit entfernten Hauptstadt mochte sie sich verletzend distanziert zeigen, aber auf Cranmer war sie als Spencers Enkelin zu erkennen.
Zweites Kapitel
Am Nachmittag des dritten Tages ihrer Freiheit zog Kit ihr grünsamtenes Reitkostüm an und verlangte den Damensattel für Delia. Mit Spencer zusammen oder auch allein ritt sie sonst nach Männerart - skandalös in Hosen und Jacke. Die Kleidung war vor Jahren für sie genäht worden. Elmina hatte inzwischen die Nähte ausgelassen und die Hosen passend verändert. Die Jacke hatte ehemals ihrem Cousin Geoffrey gehört und war für sie
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