Ungezaehmte Nacht
»Theresa kann sich glücklich schätzen, dass ihre Familie so zusammenhält. Alle Familienmitglieder stehen sich sehr nahe. Man sollte meinen, dass das Leben auf einem Gut einen nicht gerade dazu befähigt, sich bei Hofe zu bewegen, doch ihre Familie schafft das spielend.«
Violante klang so wehmütig, dass Isabella einen Arm um ihre Taille legte und sie an sich zog, als sie sich ebenfalls in Bewegung setzten. »Ich glaube nicht, dass auch nur eine von uns beiden deine Anmut und Ausstrahlung besitzt, Violante. Ich bin damit aufgewachsen, den Palazzo meiner Familie zu führen, und schaffe es immer noch nicht, so selbstbewusst und modisch auszusehen wie du. Stattdessen sage und tue ich andauernd das Falsche.«
Violante blickte auf ihre nassen Handschuhe herab. »Ich habe gesehen, wie Don DeMarco dich umarmte und küsste. Ich sah die Liebe in seinem Gesicht. Du hast etwas, was ich nie haben werde.«
Isabella blieb stehen, um Violante anzuschauen. »Ich habe auch gesehen, wie dein Mann dich anblickt«, erwiderte sie. »Du hast überhaupt keinen Grund zu der Befürchtung, dass er sich für irgendeine andere Frau interessieren könnte.«
Violante drückte eine zitternde Hand an ihre Lippen und blinzelte, um ihre Tränen zurückzudrängen. » Grazie , Isabella! Nur eine wahre Freundin würde so etwas sagen.«
»Ich sage nur, was ich denke.«
»Und ich sage dir jetzt etwas, weil ich möchte, dass du vorbereitet bist, Isabella. Nicolai ist ein mächtiger Mann. Ein Mann, den andere Frauen begehren werden. Wenn sie ihn erst einmal sehen, werden sie ihn mit begehrlichen und gierigen Augen betrachten. Du wirst nicht mehr wissen, welche Frau eine Freundin und welche eine Feindin ist. Ein Mann kann schwach werden, wenn Frauen sich ihm an den Hals werfen.«
»Ist dir das passiert?« Isabella konnte den Mann, der so vergnügt im Schnee gespielt hatte, nicht mit einem in Verbindung bringen, der imstande wäre, seine Ehefrau zu hintergehen.
Violante zuckte mit den Schultern. »Ich sehe, wie die Frauen mit ihm flirten. Und sie halten mich für alt und unfruchtbar.«
»Es spielt keine Rolle, was die anderen denken«, entgegnete Isabella sanft. »Wichtig ist nur, was dein Ehemann denkt. Und er sieht dich mit Augen voller Liebe an. Außerdem musst du doch wissen, was für eine schöne Frau du bist.« Isabella spürte, dass Violante sich mit diesen sehr privaten Themen unwohl zu fühlen begann, und suchte deshalb schnell nach einer Ablenkung. »Oh, sieh mal! Die Verkaufsstände auf dem Marktplatz.«
Dankbar wandte Violante ihre Aufmerksamkeit den feilgebotenen Waren zu. Zusammen spazierten sie an der langen Reihe von Ständen entlang und stießen Freudenschreie aus angesichts der Schätze, die sie fanden.
Isabella empfand die Leute, die sie eifrig umringten, weil sie sie kennenlernen wollten, als liebenswürdig und aufgeschlossen. Violante, die dicht neben ihr blieb, sorgte jedoch freundlich, aber entschieden dafür, dass Isabella wenigstens genügend Platz hatte, um zwischen den vielen Verkaufsständen hindurchzugehen. Violante ließ sich dann allerdings von einem geschnitzten Holzkästchen ablenken, das genau die richtige Größe hatte für die preiswerten kleinen Schmuckstücke, die sie erworben hatte. Als sie danach griff, hob eine andere Frau es bereits auf, um es sich anzusehen.
Isabella schüttelte den Kopf, als ein Streit zwischen den beiden ausbrach. Sie wusste, dass die andere Frau das Kästchen nicht bekommen würde, wenn Violante es wollte, da sie äußerst hartnäckig sein konnte.
Ein Aufblitzen von Farbe erregte Isabellas Aufmerksamkeit, als eine Frau mit einer wehenden Mähne schwarzen Haares um die Ecke eines Gebäudes bog. Sie bewegte sich sehr ähnlich wie Francesca und hatte auch deren Statur. Nur wenige Frauen trugen ihr Haar offen. Auch die Farbe ihres Kleides war ungewöhnlich – ein tiefes Königsblau, das Isabella schon des Öfteren gesehen hatte. Überzeugt, dass die Frau Francesca war, eilte Isabella durch den Gang zwischen den Ständen und dann weiter über einen schmalen Bürgersteig. Doch von der dunkelhaarigen Frau war nichts mehr zu sehen. Isabella beschleunigte ihre Schritte und warf einen Blick in mehrere Seitengassen, die zu kleinen Höfen, aber auch zu einem Netzwerk anderer Wege führten, die sich durch die Stadt schlängelten. Nachdem sie mehrere Minuten gesucht hatte, kehrte Isabella seufzend um und trat den Rückweg Richtung Marktplatz an. Niemand schaffte es, sich so schnell unsichtbar
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