Ungezaehmte Nacht
Vorhaben musste ihr gelingen. Sie konnte ihren Bruder nicht enttäuschen, denn schließlich stand sein Leben auf dem Spiel.
»Ich muss Don DeMarco noch heute Abend sprechen. Mir läuft die Zeit davon. Ich brauchte länger als erwartet, um diesen Ort zu erreichen. Bitte, Signora , er muss mich wirklich empfangen! Und wenn ich danach nicht schnellstens wieder aufbreche, wird der Pass unpassierbar sein, und ich werde nicht mehr herauskommen. Ich muss unverzüglich weiter, hört Ihr!«, erklärte Isabella in ihrem gebieterischsten Ton.
» Signorina , Ihr müsst das verstehen. Dort draußen ist es jetzt gefährlich. Es ist schon dunkel, und nichts ist sicher außerhalb dieser Mauern.«
Das tiefe Mitgefühl in den blassen Augen der Frau verschärfte Isabellas Panik nur. Die Wirtschafterin wusste etwas, was sie selbst nicht wusste, und fürchtete um ihre Sicherheit.
»Wir können nichts anderes tun, als es Euch bequem zu machen. Ihr zittert vor Kälte, und in Eurem Zimmer brennt bereits ein warmes Feuer. Ein Bad wird vorbereitet, und die Köchin schickt Euch etwas zu essen hinauf. Der Herr möchte, dass Ihr Euch wohlfühlt«, sagte die ältere Frau unter Aufbietung ihrer ganzen Überredungskunst.
»Ist mein Pferd in Sicherheit?« Ohne das Tier konnte Isabella unmöglich die vielen unwegsamen Kilometer zwischen dem Palazzo und der Zivilisation überwinden. Das Gebrüll, das sie gehört hatte, stammte nicht von Wölfen, doch was immer es verursachte, klang äußerst hungrig und hatte zweifellos sehr scharfe Zähne. Isabellas Bruder hatte ihr die Stute zu ihrem zehnten Geburtstag geschenkt, und es war eine grauenhafte Vorstellung, dass das Pferd von wilden Bestien gefressen werden könnte. »Ich sollte vielleicht besser nachsehen.«
Sarina schüttelte den Kopf. »Nein, Signorina , Ihr müsst in Eurem Zimmer bleiben. Wenn der Herr es so bestimmt, dürft Ihr seine Befehle nicht missachten. Es ist nur Eurer eigenen Sicherheit wegen.« Diesmal lag eine deutliche Warnung in der liebenswürdigen Stimme. »Betto wird sich um Euer Pferd kümmern.«
Isabella schob trotzig das Kinn vor, spürte jedoch, dass Schweigen ihr besser dienen würde als ärgerliche Worte. Der Herr . Sie hatte keinen Herrn und auch nicht die Absicht, je einen zu haben. Der Gedanke war ihr fast ebenso zuwider wie das unheimliche Gefühl, von dem das Kastell durchdrungen war. Isabella zog ihren Umhang noch fester um sich und folgte der älteren Frau durch ein Labyrinth von breiten Gängen und eine gewundene Marmortreppe hinauf, auf der eine Vielzahl von Porträts sie anstarrten. Sie konnte das unheimliche Gefühl von sie beobachtenden Augen spüren, deren Blicke jedem ihrer Schritte folgten, als sie durch die endlosen Gänge und Korridore des riesigen Palazzos ging. Das Bauwerk war schön, schöner als alles, was sie je zuvor gesehen hatte, doch es hatte eine kalte Art von Schönheit, die sie unberührt ließ. Wohin sie auch blickte, sah sie Schnitzereien von riesigen Raubkatzen mit dichten Mähnen, scharfen Zähnen und wilden Augen, gewaltigen Bestien mit struppigen Haaren um Nacken und Rücken. Einige waren mit ausgebreiteten Flügeln dargestellt, als würden sie sich jeden Moment in die Luft erheben. In allen Sälen, durch die sie kamen, standen viele kleine Standbilder und große Skulpturen dieser Tiere. In einer Nische in einer der Wände befand sich sogar ein Schrein mit Dutzenden von brennenden Kerzen vor einem grimmig dreinblickenden Löwen.
Ein plötzlicher Gedanke sandte einen eisigen Schauder über Isabellas Rücken. Das Gebrüll, das sie gehört hatte, könnte das von Löwen gewesen sein. Sie hatte noch nie einen gesehen, aber schon von den legendären Bestien gehört, die angeblich unzählige Christen zur Unterhaltung der Römer in Stücke gerissen hatten. War es möglich, dass die Bewohner dieses schrecklichen Ortes das Tier verehrten? Oder den Teufel anbeteten? Es wurde viel getuschelt über diesen Don DeMarco. Verstohlen bekreuzigte Isabella sich, um sich vor dem Bösen zu schützen, das sogar die Wände auszustrahlen schienen.
Sarina blieb vor einer Tür stehen, öffnete sie und trat zurück, um Isabella hindurchzuwinken. Nach einem fragenden Blick zu der Wirtschafterin trat Isabella über die Schwelle in ein Schlafzimmer. Der Raum war groß und angenehm warm von dem lodernden Feuer aus roten und orangefarbenen Flammen im Kamin. Isabella war jedoch zu müde und ausgelaugt, um mehr zu tun, als die Schönheit der vielen Buntglasfenster und
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