Ungezaehmte Nacht
unmöglich. Und da kam ihr plötzlich der Gedanke, dass irgendetwas in dem Tee gewesen war oder vielleicht auch in dem duftenden Badewasser. Quälende Angst beherrschte sie, und trotzdem war sie seltsam geistesabwesend und verträumt, der Realität entrückt und wie abgekoppelt von ihrer Furcht, als sähe sie dabei zu, wie all das jemand anderem geschah.
»Es erforderte großen Mut und Durchhaltevermögen, allein hierherzukommen«, wandte Sarina freundlich ein. »Es mag dumm gewesen sein, aber es war auch sehr mutig und grenzt schon an ein Wunder, dass sie eine solch beachtliche Leistung vollbringen konnte.«
»Ich weiß, was du denkst, Sarina«, sagte der Mann in einem von extremer Müdigkeit geprägten Ton. »Es gibt keine Wunder. Und ich weiß, wovon ich rede. Es ist besser, solchen Unsinn nicht zu glauben.« Er trat näher und ragte so hoch vor Isabella auf, dass sein über sie fallender Schatten sie völlig einhüllte. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, doch seine Hände waren tatsächlich groß und außerordentlich stark, als er sie wortlos auf die Arme hob.
Für einen Moment starrte sie entsetzt die Hände an, die sie mit solcher Mühelosigkeit hochhoben. In einem Moment schienen sie mächtige Pranken mit rasiermesserscharfen Krallen zu sein, und im nächsten waren sie die Hände eines Menschen. Sie hatte keine Ahnung, was die Illusion war. Ob dies real oder ein Albtraum war. Ihr Kopf fiel zurück, aber sie schaffte es nicht, ihre Lider genug anzuheben, um sein Gesicht zu sehen. Sie konnte nur hilflos in seinen Armen liegen und ihr wild pochendes Herz in ihren Ohren dröhnen hören. Doch er hatte sie nur aufgehoben, um sie in ihrem Morgenmantel unter die Daunendecken zu legen, und seine Bewegungen waren sicher und geschickt.
Dann berührte er mit einer Hand ihr Gesicht und strich sanft mit dem Daumen über ihre Haut. »Wie zart und weich!«, murmelte er, und seine Finger glitten zu ihrem Kinn hinab, um ihr den dicken Zopf aus dem Nacken zu schieben. Eine unerwartete Hitze entströmte seinen Fingerspitzen, winzige Flammen, die ihr Blut in Wallung zu bringen schienen, sodass ihr ganzer Körper sich plötzlich heiß und fremd anfühlte.
Das fürchterliche Gebrüll hob wieder an, und die Furcht erregenden Geräusche schienen in dem gesamten Palazzo nachzuhallen.
»Sie sind unruhig«, bemerkte Sarina, und ihre Hand schloss sich noch fester um Isabellas. Dieses Mal bestand kein Zweifel, dass sie es in beschützerischer Absicht tat.
»Sie nehmen eine Störung wahr, und das macht sie unruhig und gefährlich. Sei sehr vorsichtig heute Nacht, Sarina!« Dass die Worte des Mannes eine Warnung waren, war offensichtlich. »Ich werde sehen, ob ich sie beruhigen kann.« Mit einem Seufzer wandte die schattenhafte Gestalt sich ab und ging lautlos hinaus. Kein Rascheln von Kleidern, keine Schritte, ja, überhaupt kein Geräusch war zu hören.
Isabella spürte noch, wie Sarina ihr übers Haar strich und die Decken glatt zog, und dann schlummerte sie auch schon ein. Wie zu erwarten gewesen war, träumte sie von einem großen Löwen, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte. Er tappte auf mächtigen Pranken lautlos hinter ihr her, während sie durch ein Gewirr von langen, breiten Gängen lief. Die ganze Zeit über wurde sie von stillen, beflügelten Harpyien mit scharfen, krummen Schnäbeln und gierigen Augen beobachtet.
Dann durchdrangen Geräusche ihre merkwürdigen Träume, seltsame Geräusche, die zu ihren ebenso seltsamen Träumen passten. Das Rasseln von Ketten. Ein Heulen. Schreie in der Nacht. Unruhig kuschelte Isabella sich noch tiefer in die Decken. Das Feuer war bis auf eine orangerote Glut heruntergebrannt, deren schwaches Glimmen den dunklen Raum kaum noch erhellte. Isabella lag still da und starrte die winzigen Flammen an, denen ein gelegentlicher Windzug Leben einhauchte. Es verstrichen einige Minuten, bis sie merkte, dass sie nicht allein war.
Schnell drehte sie sich um und spähte durch die Dunkelheit zu der schattenhaften Gestalt hinüber, die am Fußende ihres Bettes saß. Als Isabellas Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie eine junge Frau erkennen, die sich mit vor der Brust verschränkten Armen hin und her wiegte, sodass ihr langes Haar sie wie ein Wasserfall umrieselte. Sie war schlicht, aber elegant gekleidet und offensichtlich keine der Bediensteten. Ihr Kleid war von einer ungewöhnlichen Farbe, zumindest in der Dunkelheit, von einem sehr dunklen Blau mit einem fremdartigen
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