Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ungezogen

Ungezogen

Titel: Ungezogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsay Gordon
Vom Netzwerk:
Besuch war. Der Platz neben Matteo ist frei und wartet auf weitere Fotos von Prominenten. Aber bislang ist keiner mehr vorbeigekommen.
    Sie können hier morgens um fünf Uhr nach einem Clubbesuch Station machen, einen oder zwei Espressi doppio kippen und sich anschließend ins Büro trollen. Dazu können Sie ein Croissant mit Puderzucker essen und ihre Erlebnisse verarbeiten. Ich habe es auch eine Weile so gemacht. Seitdem ich zweiunddreißig bin, habe ich dieses Stehvermögen nicht mehr. Ich komme zu anderen Tageszeiten, wie beispielsweise Samstagnachmittag, lasse mich mit einem Roman nieder und lege meine Beine über meine Einkaufstüten. Oder wenn ich mit Freunden am Abend unterwegs war und einen Absacker brauche, bevor ich zurück zu meiner Wohnung - ungefähr fünfzehn Minuten Fußmarsch von hier - gehe.
    Seit meinem ersten Besuch hier hat sich nicht viel verändert. Die Kaffeemaschine ist neu, die Aschenbecher sind seit dem Rauchverbot verschwunden, aber alles andere ist wie früher. Heutzutage führt mich einer seiner Nachfahren, der Dienst hat, zu meinem Lieblingstisch, zieht den Stuhl vor und wischt wie Matteo mit einem Tuch galant die Krümel von der Sitzfläche und zwinkert mir dabei zu. Dann sitze ich am Fenster und süffle die beste heiße Schokolade, die ich jemals gekostet habe. Aus geriebener, dunkler Schokolade. Direkt aus Italien importiert. Kein sandiges Pulver, nicht bei Matteo. In früheren Zeiten hätte ich eine Zigarette dazu geraucht, aber heutzutage zügle ich meine Sucht, bis ich gehe.
    So sitze ich also hier und beobachte die Leute, die draußen vorbeigehen, die hartgesottenen Trinker, die Nutten und ihre Lover, die umherstreifenden Arglosen, die Perversen, die Schlägertypen, die einen Grund für Auseinandersetzungen suchen, die Desperados, die am falschen Ort und zur falschen Zeit die wahre Liebe suchen. Ich sehe sie alle. Und sie alle sehen mich, denn das Fenster ist nachts warm und groß, und ich bin eine ungewöhnlich aussehende Frau, die in jeder Situation hervorsticht.
    Vor zwei Wochen kam ich kurz nach Mitternacht ins Café. Kurz danach ging ein heftiger Regenschauer nieder. Ich bestellte meine heiße Schokolade, machte es mir bequem und wollte warten, bis der Regen nachließ. Da ich keinen Regenschirm dabeihatte, richtete ich mich auf einen längeren Aufenthalt ein. Ich war im The Royal gewesen, wo ein Freund und ehemaliger Ex, Robert Checkman, als Stand-up-Comedian debütierte. Er hatte unter dem Titel Mein Vorsatz fürs Neue Jahr: Aufgeben eine blendende Parodie von sich selbst abgeliefert: den schlurfenden, mürrischen Pessimisten, zu müde, um wirklich lebensfeindlich zu sein. Das Publikum gab sich zunächst skeptisch, lachte sich am Schluss aber halbtot.
    Wir lernten uns auf dem College in London kennen und waren eine verschworene Einheit. Meine beste Erinnerung an diese Zeit ist, als ich entdeckte, wie geschickt er sich einen runterholte. Dieses Talent kam ihm zugute, als sein Schwanz aufgrund von Antidepressiva-Medikamenten außer Gefecht gesetzt war. Als er sich nun in messerscharfen Anzüglichkeiten auf der Bühne an damals erinnerte, grölten alle um ihn herum oder wurden hart oder nass.
    Aber wie bei so vielen in seiner Branche: Je näher du ihn kennenlerntest, desto weniger amüsant war er. Darüber hinaus ist nichts Lustiges daran, wenn man wie Robert aussieht. Wir trennten uns in einer Nacht auf der Waterloo Bridge. Er drohte - vergebens - damit, sich in die Themse zu stürzen. Ich wusste, er würde es ohnehin nicht wagen. Denn er liebte das Melodrama viel mehr als mich. Wie auch immer, wir blieben gute Freunde, und irgendwann konnte ich auch wieder über seinen schwarzen Humor lachen, und nur manchmal vermisste ich seine züngelnde Zunge.
    Ich glaubte, nie mehr einen Mann mit einer solchen Zunge zu finden. Wie man sich doch irren kann.
    Vor ein paar Jahren hatte Robert sein Coming-out als Bisexueller. Seither hat er kaum noch ein Mädchen gehabt. Auf dem Bürgersteig vor dem The Royal gab er mir einen Kuss und verschwand nach Hause, um mit Aris, seinem neuen mazedonischen Macker, zu feiern. Ich überquerte die Straße und kam hierher, zu meiner Schokolade und meiner Aussicht aus dem Fenster. Die war mir in dieser Nacht wegen der prasselnden Regentropfen aber verwehrt.
    Am beeindruckenden Gebäude des Millennium Plaza, in welchem sich neben dem The Royal andere Bars, Clubs und Esslokale angesiedelt hatten, nagte schon der Zahn der Zeit. Die ehemals weiße Fassade war

Weitere Kostenlose Bücher