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Ungezogen

Ungezogen

Titel: Ungezogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsay Gordon
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durch Auspuffgase und Wasserfälle aus undichten Dachrinnen unansehnlich geworden. Durch die regennasse Fensterscheibe verwischte sich die flackernde Neonbeleuchtung des Millennium-Plaza-Schilds in eine diffuse Botschaft. Die Menschen vor der Kasse drängten sich aneinander und hielten sich die Mäntel über die Köpfe. All das wurde überlagert von meinem eigenen Spiegelbild, blass und deftig im Vergleich zu der auseinanderbröckelnden Welt da draußen.
    Ja, ich bin eine ungewöhnlich aussehende Frau. Nicht nur, weil ich vergleichsweise größer als der Durchschnitt bin. Ich kultiviere seit langem einen Stil, der aus einer längst vergangenen Zeit stammt. Ich habe die Lockenmähne von Rita Hayworth, die Augen von Lana Turner, eine Haut wie Porzellan, trage Rouge auf den Wangen und rote Lippen wie eine Geisha. Mein Gesicht ist herzförmig und von schwarzem, welligem Haar umgeben, das ich manchmal kunstvoll nach oben stecke. An diesem Abend fiel mein Haar locker über die Schultern. Meine Augenlider sind schwarz und ein wenig hochmütig, und die dünnen Augenbrauen verleihen mir einen skeptischen Ausdruck.
    Mit der Authentizität nehme ich es nicht so genau. Generell trage ich einen Mix aus moderner und Kriegsmode. Aber nichts von dem ist wirklich alt. Denn während des Krieges hatten die Frauen keinen Hüftumfang von achtzig oder hundert Zentimeter oder ein D-Körbchen. Deshalb kaufe ich Imitationen oder nähe die Kleider selbst. Ich vermeide kleine, schiffchenförmige Hüte mit Schleier, die zwar originalgetreu sind, mir aber nicht gefallen. Zum Glück leben wir in einer Zeit, in der man keinen Hut tragen muss, um eine Dame zu sein.
    An diesem Abend trug ich einen knielangen Bleistiftrock und eine kurzärmelige Bluse. Ich hatte das alte Spitzenmodell vergrößert und mit einem Schlösschen versehen, das um meinen dicken Hintern flatterte. Dazu Strümpfe mit Naht und Schuhe mit Pfennigabsätzen. Meinen falschen Persianer hatte ich über die Rückenlehne meines Stuhls gehängt. Kunstpelz, ein weiteres Geschenk der heutigen Zeit, für das ich sehr dankbar bin.
    Ich bin froh über meine sinnliche Ausstrahlung.
    Mein Stil soll die Entbehrungen des Krieges verkörpern, aber auf meiner extravaganten Figur erhält er eine völlig andere Note. Ich bevorzuge Fischgräten-Korsetts, die meine Taille einschnüren. Dadurch können meine Hüften und Brüste in ihrer ganzen Fülle überquellen. Ich besitze eine ganze Garderobe von Hüftgürteln und Hüfthaltern. Nachahmungen, aber wesentlich verschwenderischer hergestellt, als es seinerzeit erlaubt war. Ich trage sie nicht zu eng, denn ich ziehe bequemen Tragekomfort vor. Ich bin nicht daran interessiert, eine besondere Silhouette zu kreieren, nur eine kurvenreiche Form, die etwas von meiner Wollüstigkeit preisgibt. Zu Hause ziehe ich lockere Camisoles und seidene French Knickers vor. Ich habe gehört, dass sie wieder in Mode kommen. Ich kann sie wirklich sehr empfehlen.
    An diesem Abend trug ich einen Satin-BH und einen passenden Gürtel, die ich mit einem modernen Höschen ergänzte. Es muss nicht immer alles aus einem Guss sein, nur manchmal sollen sich Unterhosen ohne großes Aufheben ausziehen lassen. Letztlich hängt doch viel davon ab, was ich darunter trage. Besonders an solch stark frequentierten Orten wie Matteo's. Ich beobachte, wie mich die Leute anblicken, wieder wegsehen und dann häufig nochmals abschätzend zurückschauen. Ich mag es, die Leute direkt anzusehen, und warte dann ihre Reaktion ab. Nennen Sie es einen psychologischen Test. Die meisten Menschen, vor allem Engländer, drehen sich sofort wieder um, aber gelegentlich überraschen sie mich auch. Ich fühle mich, als ob ich mit der ganzen Welt flirte.
    Wie auch immer, ich war also hier und hinterließ einen immer größer werdenden Abdruck meiner roten Geisha-Lippen auf meiner Tasse. Ich griff nach meiner Tasche, um meine Puderdose aus Blech hervorzuholen, den einzigen wirklich alten Originalgegenstand, den ich besitze, überprüfte meinen Lippenstift und entfernte ein paar Lidschattenspuren auf meinen Wangen. Ich ließ die Dose wieder zuschnappen und sah nach draußen. Ein Mann mit Hut flanierte über den Bürgersteig vor meinem Fenster. Sein Kopf war Richtung Plaza gedreht, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Aber es traf mich fast der Blitz, was ungewöhnlich ist, als ich sah, dass er einen Fedora trug.
    Einen Fedora. Hätte er einen Trilby getragen, wäre es mir keinen zweiten Blick wert gewesen.

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