Unglücklich sein (German Edition)
der Bildung den Untergang attestierten, zufrieden zurückgelehnt hätte? Es reagierte zum Glück mit äußerster Unruhe, und dieses Glück bestand darin, die Verhältnisse verbessern zu wollen. Es ist eine gute Idee, eine anstehende Arbeit zu tun und sie möglichst gut zu tun, statt ständig nach dem Glück der Zufriedenheit zu fragen.
Der Abschied von der ewigen Zufriedenheit ist freilich nur ein theoretischer, in der Praxis hat sie ohnehin nie funktioniert. Es ist nicht die Bestimmung des Menschen, immer nur zufrieden zu sein, sonst säße er noch immer auf den Bäumen. Manch einer wird sagen: Wäre auch besser so. Die Geschichte der Künste und der Wissenschaften zeigt, zu welchen bemerkenswerten Entwicklungen Menschen in der Lage sind. Viele von denen, die dazu beitrugen, haben nicht aus Zufriedenheit ihre Werke geschaffen und ihre Entdeckungen gemacht. Was wäre gewesen, wenn Entdecker wie Galilei und Einstein nicht immer wieder tief ins Grübeln verfallen wären, Forscherinnen wie Madame Curie nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätten? Wäre das Werk Heinrich von Kleists entstanden, wenn ihm auf Erden zu helfen gewesen wäre? Hätte Vincent van Gogh den Pinsel so heftig über die Leinwände geschwungen, wenn er sich und seine Kunst entspannt betrachtet hätte? Muss man sich Albert Camus, der den Mythos des Sisyphos neu beschrieb, als einen glücklichen Menschen vorstellen?
Ein großer Teil dessen, was in der Geschichte der Menschheit an Bewundernswertem zustande gebracht worden ist, ging nicht aus Zufriedenheit hervor. Die Zufriedenheit als Lebensziel wird heillos überschätzt. Unzufriedenheit ist der Ansporn zu neuen Taten, das ist dem Menschsein eigen. »Nur die Unzufriedenheit macht glücklich« (Georg Kreisler, Letzte Lieder , Autobiografie, 2011). Vielleicht kann nur der, der zweifeln und verzweifeln kann, große und großartige Dinge schaffen. Der, der zufrieden ist, lehnt sich eher zurück. Insofern erscheint es als Glück, dass Unzufriedenheit ganz von selbst entsteht, wenn eine Zufriedenheit zu lange anhält. Das geschieht ohne erkennbare äußere Einflüsse im Menschen selbst, den eine schlechteStimmung überkommt, und es resultiert aus äußeren Einflüssen, die zu Herausforderungen werden: Niederlagen, Misserfolge, Ärger, Streit und Dinge, die schiefgehen, führen Zeiten der Unzufriedenheit herbei, die niemand liebt und die dennoch unumgänglich sind. Zum Entsetzen derer, die nichts davon wissen wollen.
4.
Zur Fülle des Lebens gehört nicht nur Positives
Kein populäres Handbuch der Psychologie kommt ohne seine Beschwörung aus, auf Schritt und Tritt begegnet man Menschen, die so inbrünstig daran glauben, dass sich der Eindruck einer Quasi-Religion aufdrängt: Das Positivdenken hat innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten die westliche Kultur erobert. Nicht, dass es nicht auch positive Seiten hätte: Es ist von Vorteil, in einer Flut negativer Nachrichten auch mal wieder Land zu sehen. Neuer Elan wird spürbar, frische Kräfte stehen zur Verfügung, wenn nicht immer alles nur negativ erscheint. Aber wozu so krampfhaft in allem stets nur das Positive sehen? Warum muss jeder Tag ein positiver Tag sein? Das Leben kennt schließlich noch andere Zeiten, die das Positive erst kostbar machen. Lass mich traurig sein , singt Michy Reincke (Album Das böse Glück , 1993),
Lass mich einfach nur ganz allein,
Ich mag mich heute nicht mehr freu’n,
Es passt nichts anderes mehr rein.
Wenn nur noch die gute Stimmung erlaubt ist, wird jede Verstimmung zur schlimmen Störung. Die unscheinbarste Unregelmäßigkeit erscheint dann negativ, und es setzt ein Kampf gegen Windmühlenflügel ein, da das Negative schneller herbeistürmt, als ein Positivdenker positiv denken kann. Mit aller Macht die positive Sichtweise aufrechtzuerhalten, laugt Menschen aus, mit dem Resultat, noch wütender positiv zu denken. Da muss womöglich etwas im eigenen Inneren niedergekämpft werden. Vielleicht ist das die Grundregel: Je heftiger Menschen auf dem Positiven beharren, desto tiefer stecken sie im Negativen fest.
Aber was hilft es, Trost darin zu finden, die Dinge so zu sehen, wie sie nicht sind? Dieser Trost kann nicht von Dauer sein. Inspirierend ist das Positivdenken, um problematische Dinge auch wieder anders zu sehen. Zum Problem wird das Positivdenken, wenn es dazu führt, nur noch Positives sehenzu wollen. Nichts wird mehr ernst genommen, alles erscheint lediglich als Frage der Sichtweise. Hilft es einem Mensch mit
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