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Unguad

Unguad

Titel: Unguad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Werner
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Tibor
stieß mit seiner Nase fast an das Foto. Aber das nützte nichts, also beugte er
seinen Kopf erneut nach hinten. »Warte, vielleicht hab ich mein Lesebrille doch
dabei.« Während er seine Seitentaschen durchsuchte, zog Linus neben dem
seidenen Einstecktuch in der oberen Jacketttasche eine Brille hervor.
    »Ist es die?«
    »Danke, mein Junge.« Tibor setzte sie auf und unterzog das Foto
einer genaueren Untersuchung. »Nun, die Frau auf dem Bild ist jung. Aber sie
erinnert mich an jemanden. Diese blonden Haare. Und diese tadellose Figur.« Er
richtete sich auf und wandte sich seinem Enkel zu.
    »Linus, ich glaube, das ist tatsächlich Heidemarie. Heidemarie
Wieland.« Als er in die unwissende Miene seines Enkelsohnes blickte, erklärte
er: »Die Dame, die hier regelmäßig Besuchsdienste macht. Anderen vorliest, und
so weiter. Heidemarie.« Diese Erkenntnis stimmte ihn nachdenklich.
    Sein Enkel konnte sich undeutlich daran erinnern, schon einmal von
der Frau gehört zu haben. »Der Engel des Heimes«, wie seine Mutter immer sagte.
    »Bist du nicht mit der befreundet?«, meinte sich Linus zu entsinnen.
»Weißt du, dass der Hecker ihr Sohn ist?«
    Tibor sah ihn grüblerisch an. »Nein. Nein, das wusste ich bis jetzt
nicht.«
    »Komisch, oder?«
    »Ja, das ist eigenartig. In der Tat.« Nachdenklich schob Tibor die
Spindtür zu, und sie machten sich auf den Rückweg.
    Linus drückte auf den Anforderungsknopf des Lifts.
    »Also, den Hecker hätt ich nicht gern als Sohn«, nahm er ihr
Gespräch wieder auf. »Da würd ich …« In diesem Moment knackte es, und das
Ganglicht erlosch. Es war stockdunkel.
    »Mist!« Linus tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Neben dem
Liftknopf war er offensichtlich nicht. Der Junge drehte sich etwas, um auf der
anderen Seite des Aufzugs zu suchen. Sein Blick, der blind in die Finsternis
gestarrt hatte, wurde unwillkürlich von einem schmalen gelben Band angezogen.
Es strahlte unter einer Tür am Ende des Ganges hindurch. Da brannte Licht.
    »Seltsam.« Linus hatte den Schalter gefunden, das Neonlicht
flackerte. Klackende Geräusche. Die Aufzugstür öffnete sich. Tibor zuckelte
hinein und hielt sich mit der freien Hand an der Haltestange fest. Man merkte
seinen Bewegungen an, dass er abgekämpft war.
    »Opa, ich komm gleich. Ich muss noch etwas nachschauen.« Linus
drückte auf die Fünf, sah in das verwirrte Gesicht seines Großvaters, dann
schloss sich die Tür automatisch.
    Dreiundzwanzig Uhr dreiundvierzig
    Auf Zehenspitzen schlich Linus zu dem erleuchteten Raum. Er
konnte sich zwar nicht vorstellen, dass jemand nachts hier unten war. Aber
nachsehen wollte er. Sicher war sicher.
    Kurz bevor er die Tür erreicht hatte und schon die Hand nach der
Klinke ausstreckte, ging das Ganglicht erneut aus. Wie sollte es auch anders
sein!
    Seine Finger umfassten das kalte Metall. Linus bewegte sich nicht.
Lauschte. Meinte, leises Kratzen zu vernehmen. Der Lichtschein unter der Tür
erlosch. Komplette Finsternis. Linus fühlte, wie der Türgriff vorsichtig von
innen heruntergedrückt wurde. Hastig ließ er los. Erstarrt stand er immer noch
an demselben Platz. Wo sollte er auch hin?
    »Fuck!«, fluchte eine junge Stimme. Der Unbekannte war direkt in ihn
hineingelaufen. Sie fuchtelten mit den Armen, stießen sich gegenseitig weg.
Unartikuliertes Stöhnen auf beiden Seiten. Linus taumelte nach hinten, die Tür
schlug wieder zu.
    Schnell atmend versuchte er sich zu beruhigen. Also doch! Aber wer
war das? Er tastete nach dem Lichtschalter. Bing. Die Neonröhren surrten.
    Eine unwirkliche Situation. Er schlich im Keller des Altenheimes
herum, wo er nichts zu suchen hatte, nachts, und traf auf einen Typen, der sich
hier offensichtlich versteckte. Das musste der sein, von dem ihm sein Opa
vorhin erzählt hatte. Was wollte der bloß hier? Um die Sache noch skurriler zu
machen, klopfte Linus höflich an die Tür. Fast gleichzeitig wurde sie geöffnet.
Ein Junge in seinem Alter erschien vor ihm. Zu eng stehende Augen. Viele Pickel
im Gesicht. Die Basecap tief heruntergezogen. Verknitterte, schmutzige
Klamotten. Die Hände in den hängenden Hosentaschen vergraben. Sneakers ohne
Schuhbänder.
    »Hey.«
    »Hey.«
    Sie musterten sich wortlos.
    »Dich kenn ich doch!«, sagte Linus nachdenklich. »Wir waren zusammen
in der Grundschule.« Er zeigte mit dem Finger auf sein Gegenüber. »Du bist der
Florian. Florian Sonnleitner. Stimmt’s?«
    Der andere zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon.«
    »Was

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