Unguad
Er schrieb heute
Matheschulaufgabe, kam ihm dunkel ins Bewusstsein. Er sollte sich mal
rausschleichen und bei seinen Großeltern ein Eck suchen. Linus stellte die
leere Dose ab, entfaltete seine langen Beine aus dem Schneidersitz und stand
auf.
»Was machst du jetzt?«, fragte er Florian. »Oben ist abgesperrt. Da
kommst erst in der Früh hinaus. Musst in die Schule oder arbeiten?«
Florian feixte. »Ich bleib, wo ich bin. Da findet mich mein Chef
morgen früh.«
»Hä?«
»Ich schuft beim Brunnhuber. Installateurfachbetrieb. Wir reparieren
die Heizung.«
»Ah so.« Linus grinste zurück. »Na, dann mach’s gut.« Er hob die
Hand. Zögerte. »Eins noch.«
Der andere wurde sofort misstrauisch.
»Was hast gestern Nacht in der Abstellkammer oben im fünften Stock
gemacht?«
»Woher weißt denn das schon wieder?«
»Ich hab da meine Quellen.«
Florian presste verbissen seine Lippen aufeinander und schaute auf
sein Lager.
»Jetzt sag!«, versuchte ihn Linus zum Sprechen zu bringen. »Meinen
Opa hast getroffen.«
»Ach, des war dein Opa.« Florian lachte höhnisch auf.
»Ja. Und, was wolltst da oben?«
Mit einer Hand hob er eine der Decken an. »Na, was zum Hinlegen hab
ich geholt.«
»Und da gehst bis in den fünften Stock?«
Florian blickte unstet hin und her. »Ja, mei. Die Elvira ist meine
Cousine. Da wollt ich halt mal in die Kammer schauen, in der sie gestorben
ist.«
»Deine Cousine war die? Sauber.« Linus wollte sich für die Hohnlache
über seinen Opa revanchieren.
»Und? Hast was dagegen?« Da verstand der andere null Spaß. Familie
ist Familie. Die Elvira war schon praktisch.
»Na. Nix. Passt scho.« Linus ging zur Tür hinaus. »Wir sehen uns.«
Keine Antwort.
Linus schlich sich unbemerkt in das Wohnzimmer seiner
Großeltern. Dort baute er sich aus den zwei Cocktailsesseln ein provisorisches
Bett und schlief mehr schlecht als recht. Es war eine kurze Nacht. Um sechs Uhr
wurden die Geräusche auf dem Gang lauter. Anscheinend übernahm die Tagesschicht
die Arbeit. Sicherheitshalber zog Linus in das angrenzende Badezimmer um und
setzte sich auf den weißen Plastikstuhl in der Dusche. So wartete er mit dem
Kopf an die Fliesen gelehnt darauf, dass es acht Uhr und die Haustür
aufgesperrt wurde.
Sieben Uhr neunundzwanzig
Um halb acht öffnete sich die Tür des Wohnzimmers. Linus
schreckte auf und horchte. Jemand kam herein und schloss leise die Tür. Als der
Junge leichte Hausschuhschritte in Kombination mit dem Tappen eines Stockes
hörte, stand er auf und verließ sein Versteck.
»Ah, da bist du ja.« Sein Opa war sichtlich erleichtert. »Was hast
du denn gestern so lange im Keller gemacht?« Er ging zu seinem Sessel und ließ
sich schwerfällig nieder. Seine weißen Haare standen ihm ungekämmt nach allen
Seiten vom Kopf ab. Unrasiert, in Pyjama und Morgenmantel, das Gesicht noch
voller Falten vom Kissen sah man ihm sein hohes Alter deutlich an.
Linus setzte sich zu ihm und berichtete in abgekürzter Form von
seinem Zusammentreffen mit Florian. Sein Großvater hatte die Hände auf den
Knauf seines Stockes gelegt und hörte ihm aufmerksam zu.
Er nickte bedächtig. »So, so. Ein blinder Passagier an Bord. Ich
verstehe. Das war also der junge Mann, der mir vorgestern Nacht begegnet ist.
Da war er hier in der Abstellkammer.«
»Was treibt dich denn nachts da hinein?«
»Ich konnte nicht schlafen«, war die lapidare Antwort. »Viel
interessanter ist, weshalb unser junger Freund dort war. Hat er was gesucht?
Für ihn war es nicht ungefährlich, sich bis in den fünften Stock zu wagen. Da
hätte er leicht entdeckt werden können. Warum also?«
»Behauptet hat er, dass er sich Decken holen wollte. Außerdem war
die Elvira seine Cousine. Da wollte er sich die Kammer genauer anschauen.«
Tibor sah seinen Enkel nachdenklich an. »Glaubst du das?«
Linus zuckte mit den Schultern. »Kann ihn ja noch einmal fragen,
wenn ich ihn wieder treffe. Aber jetzt muss ich los. Tschüss, Opa.«
»Szia, unoka.«
Neun Uhr zehn
Ungewöhnlicherweise hatte mich mein Vater heute schon um halb
neun angerufen und mir auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass ich bitte
möglichst bald zu ihm kommen sollte, er müsste mir etwas erzählen. Ich war zu
der Zeit gerade mit Runa draußen gewesen und erschrak ein wenig, als ich die
Nachricht abhörte. Es war nämlich nicht seine Art, mich zu sich zu zitieren.
Ich besuchte die beiden eh oft genug. Was war denn schon wieder passiert?
Kurz nach neun war ich im Heim. Die
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