Unguad
drückte meinen Arm auf den Rücken und schob mich
Richtung Tür.
Vor mir konnte ich einige ausgetretene Stufen ausmachen, die in der
dunklen Tiefe verschwanden. Noch ein Schubs von hinten, und meine Füße suchten
gehorsam die nächste Stufe. Mit meiner freien Hand stützte ich mich an der Wand
ab. Sie war aus Stein, unbehauen, kalt. Die beiden folgten mir. Oben wurde das
Licht gelöscht. Die Tür geschlossen.
Totale Dunkelheit.
Eine Taschenlampe klickte an. Der Lichtstrahl erhellte in zackigen
Bewegungen die unregelmäßige Steindecke. Ich hörte, wie ein Riegel vorgeschoben
wurde. Heidemarie drehte sich um und leuchtete nach unten. Viele Treppenstufen
führten abwärts, verschwanden hinter einer Ecke.
»Weiter!«
Hecker hatte mich losgelassen und stieß mich vorwärts. Er war
sicher, dass ich ihnen hier nicht weglaufen konnte.
Ängstlich stieg ich hinab. Die Stufen waren uneben. Auf manchen
lagen kleine Steine. Sie begannen zu rollen, wenn man unachtsam darauf trat.
Ich hatte schon immer Probleme mit Treppen. Konnte sie noch nie leichtfüßig
hinunterspringen. Meine Kinder hüpften dagegen wie die Gämsen.
So bündelte ich all meine Konzentration auch jetzt darauf, dass mein
Fuß Halt fand. Nahm eine Stufe nach der anderen. Bald erreichte ich die Biegung
und stand auf einem Treppenabsatz. Ich stoppte. Wusste nicht, wohin ich sollte.
Rechts führte ein dunkler Gang horizontal ins Ungewisse. Links wand sich die
Treppe nach unten. In die Schwärze.
Meine Begleiter waren hinter mir. Heckers Schatten oszillierte im
Licht der Taschenlampe an der Wand vor mir. Wurde kleiner und schärfer. Ich
spürte seine widerliche Nähe in meinem Rücken. Ohne ein Wort schubste er mich
weiter die Treppe hinab.
Ich stolperte nicht. Ging wie im Traum eine Stufe nach der anderen
in den Untergrund. Es erschien mir nicht real. Die Kälte hatte mich anfangs
frösteln lassen. Inzwischen spürte ich sie nicht mehr. Oder ich achtete einfach
nicht darauf. Das Abwärtssteigen füllte mein Denken komplett aus. Meine Hände
lagen rechts und links an der eisigen Mauer. Sie glitten mit jedem Schritt ein
wenig mit hinunter. Gefühllose Eiszapfen. Ich hatte aufgehört zu grübeln. Es
hatte keinen Sinn. Ich würde eh nicht erraten, was die beiden mit mir
vorhatten. Ich hätte nicht sagen können, dass es mir egal gewesen wäre. Aber
mir war, als ob ich durch Raum und Zeit gehen würde.
Der Abstieg in die Unterwelt.
In die untere Welt des Schamanen.
Das hatte ich gelernt. Erst letzte Woche. Oben in der warmen
Realität. Was hatte uns Frau Dohrer beigebracht? »In der unteren Welt wartet
die Erkenntnis. Dort muss man keine Angst haben. Man ist geschützt.«
Geschützt? Schutz. Ich brauche Schutz. Frau Dohrer. Trommeln.
Krafttiere. Ja, ich werde meine Krafttiere rufen. Den Luchs und die Schlange.
Kommt! Zeigt, dass ihr mir helfen könnt.
Begleitet mich.
Wir sind da.
»Wir sind da.«
Keine weiteren Stufen. Die Treppe öffnete sich in einen kargen Raum.
Nicht groß. Nicht hoch. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Hocker. Alles aus weiß
emailliertem Metall, vom jahrelangen Gebrauch abgestoßen. Dicke eiserne Ringe
warfen Schatten an die Steinwände. Ein paar Holzkisten, deren unterer Rand
graugrün vor Schimmel war, stapelten sich unordentlich in der Ecke. Es roch
modrig. Im Schein der Taschenlampe glitzerten Wassertropfen an den Mauern.
»Na, weißt du, wo wir sind?« Heidemarie klang wie eine
Kindergartentante.
Ich war noch in meiner Traumwelt. Bisher hatte ich die untere Welt
nur in schamanischen Reisen besucht. Mit Hilfe von Trommelklängen. Hinunter in
die Höhle. Habt keine Furcht. Alles ist gut. Schaut euch um. Was seht ihr?
Gefangene in Ketten.
Leiden.
Verzweiflung.
»Im Verlies.«
»Gut, Karin, gut.« Heidemarie drehte sich um sich selbst.
Beschwingt. Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte im Kreis. »Wusste gar nicht,
dass das offiziell bekannt ist.«
Linus macht hierher Führungen, dachte ich. Ob er auch die Angst
riechen kann, die in diesem Raum eingesperrt ist? Kein guter Platz für einen
Jungen. Für meinen Jungen.
»Setz dich doch, Karin, setz dich.« Heidemarie deutete auf den
Hocker. Wie in Trance bewegte ich mich zu dem dreibeinigen Schemel. Hielt davor
an. Meine gezackte Schlange lag darauf und zischelte mir zu.
»Ich bleibe lieber stehen.« Das war richtig.
Hecker wischte an mir vorbei. Legte die Spritze auf den Tisch. Was
war da bloß drin? Er postierte sich an der hinteren Wand des Raumes. Den
rechten Fuß auf einer
Weitere Kostenlose Bücher