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Unguad

Unguad

Titel: Unguad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Werner
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mehr.« Sie feixte.
    »Und dann fielen sie vor lauter Unterzucker ins Koma, die Armen, und
keiner hat’s gemerkt. Am nächsten Tag waren sie tot. Einer weniger.« Sie
zeichnete einen imaginären Haken in die Luft.
    »Sie starben wie die Fliegen, und keinem ist es aufgefallen. Alte
Leute sterben halt. Sind lange krank. Zu nichts mehr nütze. Warum groß
nachfragen, wenn sie plötzlich tot in ihren Betten liegen. Es war so einfach.«
Beinahe entschuldigend breitete sie ihre Hände aus. »Aber einmal. Da kam Adam
rein. Hat gesehen, was ich mache.« Ihr Blick suchte ihn. Ich hörte, dass er
seinen Standplatz veränderte. Er interessierte mich nicht. Ich beobachtete sie.
»Wie praktisch, dass ich es schon vorher wusste: Er ist mein Sohn.« Gespielt
theatralisch: »Mein eigen Fleisch und Blut.«
    Sie legte ihre Hände an den Bauch und lehnte sich gegen den Tisch.
»Für diesen Notfall«, dabei malte sie zwei Gänsefüßchen in die Luft, »habe ich
immer ein Foto von seinem Vater in der Tasche gehabt. Ich bin auf ihn
zugegangen, hab es ihm gezeigt und ihm erklärt, wer ich bin. Seine Mutter.«
Lauter: »Nicht wahr, Adam?« Keine Reaktion. Davon ließ sie sich nicht beirren.
»Ab diesem Zeitpunkt waren wir ein Team. Komplizen. Im Grunde war er mit mir einer
Meinung. Immer wenn er Nachtdienst hatte, konnte ich spritzen. Davor haben
schon die anderen Schwestern die Injektion verabreicht, nach dem Abendessen.
Die Alten waren voller Insulin. Kein Problem. Nur einmal hat eine den Morgen
überlebt. Gell, Adam? Die Obermaier. Ist sogar noch ins Krankenhaus gekommen.
Aber es war zu spät. Sie konnten nichts mehr machen. Warum auch? Ist besser
so.«
    Heidemarie fasste sich wieder an ihr Seidentuch, lockerte es
diesmal. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie schnappte nach Luft.
Es ging ihr nicht gut. Sie zog sich das Tuch vom Hals.
    Eine schattenhafte Bewegung beim Treppenabsatz fing meine
Aufmerksamkeit ein. Ich schaute hin. Da saß mein Luchs. Seine grünen Augen
leuchteten in der Dunkelheit. Er wartete auf mich.
    Noch nicht.
    Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit wieder auf Heidemarie, die
mir etwas geschwächt vorkam.
    »Wenn du alte Leute nicht ausstehen kannst, warum liest du ihnen
dann seit Jahren vor?«
    Heidemarie richtete sich auf. »Gute Frage, Karin. Aber du stellst ja
nur gute Fragen. Nun, das war Schicksal. Ich wurde dazu verdonnert. Von einem
Gericht. Zur Abwendung der Ersatzhaftstrafe, wie es so schön heißt. Bin nämlich
ohne Führerschein gefahren. Mensch, hier in der Pampa braucht man nun mal ein
Auto, hab ich gedacht.« Sie setzte sich etwas wackelig wieder auf den Stuhl.
»Aber ich bin immer durch die Prüfung gefallen. War auch schon zweiundsechzig
Jahre alt. Die älteste Fahrschülerin in der Geschichte der Fahrschule. Hat mir
aber nichts genützt. Hab den Schein einfach nicht gekriegt. Da bin ich ohne
gefahren. Ich wollte ins Theater nach Passau. Aber ich hatte Pech. Kam in eine
Verkehrskontrolle. Na, und dann folgte der Strafbefehl. Den konnte ich nicht
zahlen von meiner kargen Rente. Und damit ich das nicht im Gefängnis absitzen
musste, konnte ich es durch gemeinnützige Arbeit abwenden. Und sie schickten
mich ins Altenheim.« Sie lachte höhnisch auf. »Selber schuld.«
    Das hatte sie sich ja passend zurechtgelegt. »Aber warum umbringen?«
Fehlgeleitete politische Ansichten sind eines, aber Mord?
    Heidemarie zuckte leicht mit den Schultern und schnipste einen
imaginären Krümel vom Tisch. Sie legte ihre Hände vor sich auf die
abgesplitterte Tischplatte und senkte den Blick. Nach einer Weile fing sie
wieder zu sprechen an und tippte im Rhythmus mit ihren Fingern auf das Email.
»Gleich der Erste, dem ich vorlesen sollte, war so ein Schmarotzer.
Erwerbsunfähig wegen irgendwelcher psychischen Lappalien, seit er
achtundvierzig war. Achtundvierzig! Das muss man sich mal vorstellen!«
    Sie stoppte ihr Tippen, hob den Kopf und fixierte mich. »Bekam
trotzdem eine stattliche Rente. Jahrelang. Ach, was sag ich, jahrzehntelang.
Viel mehr als ich, obwohl ich mein ganzes Leben gearbeitet hatte. Hat damit
auch noch angegeben, der Idiot. Und dann lag er mit dreiundachtzig in seinem
Bett, schikanierte die Schwestern und hielt markige Reden. Ein Parasit der
übelsten Sorte.« Die Aufregung hatte wieder eine Spur Farbe in ihr Gesicht
getrieben. »Wenn man mal ausrechnet, was der in all den Jahren unberechtigt
einkassiert hat. Und ich lebe am Minimum!« Sie atmete schwer durch. »Ich sollte
ihm auch

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