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Unguad

Unguad

Titel: Unguad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Werner
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Kiste. Verschränkte die Arme vor seiner schmalen Brust.
Seine Aufgabe schien hiermit beendet.
    »Wie du willst, meine Liebe.« Heidemarie setzte sich auf den Stuhl
am Tisch. Sie stellte die Taschenlampe ab, der Lichtkegel erleuchtete die
niedrige Decke. Im Spiel von Licht und Schatten traten die Unebenheiten des
Steins plastisch hervor. Ein abstraktes Gemälde in Schwarz-Weiß. »Nun, möchtest
du vielleicht etwas wissen?«
    Ich drehte mich ihr zu. »Was machen wir hier?«
    »Exzellent, Karin. Das kannst du. Fragen stellen.« Sie schaute mich
wohlwollend an. »Wir sind hier, weil du draußen zu viele Fragen gestellt hast. Nicht wahr?« Sie veränderte ihre Stimmlage. Ihr hoher
Singsang gab den Takt vor, in dem ihr Kopf mit den Worten hin- und herschwang.
    »Warum gibt Heidemarie den Leuten die Spritze? Warum ist Hecker ein
böser Junge? Bist du ein böser Junge, mein Sohn?« Sie erwartete keine Antwort.
»Ja, du bist ein böser Junge, sehr böse. Was soll auch aus einem werden, den
die Mutter ins Heim abgeschoben hat? Nicht wahr, mein Liebling?«
    Hecker gab keinen Laut von sich. Ich sah ihn nicht an, er war mir
gleichgültig. Ich konzentrierte mich auf Heidemarie. Sie schien zu horchen.
Streckte einen Finger achtungsgebietend nach oben. Grinste.
    »Lausche, Karin, lausche.«
    Ich vernahm ein dumpfes Pochen.
    »Da sucht wohl jemand nach dir. Sie klopfen und schlagen, aber sie
können nicht herein. Wie schade für dich.« Sie legte ihren Kopf zur Seite und
schwieg. Das schwache Geräusch schien von weit her zu kommen. Aus einer anderen
Welt. Ich interessierte mich nicht dafür.
    In dieser unteren Welt, in diesem Mantel von Dunkelheit, Enge und
Feuchte fühlte ich mich seltsamerweise zu Hause. Ich fürchtete mich nicht.
    »Was willst du mir erzählen?« Bereitwillig gab ich ihr das
Stichwort. Denn ich spürte, dass es Heidemarie wichtiger war zu reden, als mir
zuzuhören. Ich wusste jetzt, sie war ein schlechter Mensch, und ihr Sohn
ebenfalls. Weshalb, war mir egal. Sie wollte sprechen. Deshalb waren wir hier.
Damit sie einen gleichberechtigten Gesprächspartner hatte, dem sie alles
erklären konnte.
    »Was willst du wissen?«
    Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen, sah sie nur an.
    »Also gut. Du fragst dich vielleicht, warum du hier bist.« Nach
einer Pause fuhr sie fort. »Du warst zu neugierig. Hast Fragen gestellt. Die
richtigen Fragen den richtigen Leuten. Zugegeben. Aber das war nicht gut für
dich, nicht wahr?« Sie schaute mich kokett an. Ich blickte zurück. Blinzelte
nicht.
    »Okay.« Sie wandte ihre Augen ab und sprach weiter. »Deine Mutter
ist genauso. Kommt zum richtigen Zeitpunkt in das richtige Zimmer und sieht.
Versteht. Aber sie vergisst. Selten taucht eine Erinnerung aus ihrem zerstörten
Gehirn auf. Das ist ihr Schutz. Einmal ist ihr wohl etwas eingefallen, und sie
hat es dir erzählt. Und du hast zugehört. Dein Fehler. Und Fragen gestellt.
Noch mehr Fehler. Das konnte ich nicht zulassen. Das verstehst du doch?«
    Sie versuchte, eine Reaktion aus mir herauszukitzeln. Vergebens.
Möglicherweise irritierte sie das ein wenig, aber sie hatte sich gleich wieder
gefangen und dozierte weiter. »Meine Mission ist wichtiger. Wer braucht schon
alte, kranke Leute? Die kosten nur Geld. Dem Staat, der Gesellschaft. Geld, das
an anderen Stellen fehlt.« Sie fasste an ihr Seidentuch. Erwärmte sich für das
Thema. »Bei den Renten zum Beispiel. Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet,
habe es sogar aufs Spiel gesetzt, um hierherzukommen, in den goldenen Westen,
und dann? Almosen, nichts als Almosen. Jeder dahergelaufene Zigeuner bekommt
mehr. Das ist eine Schande. Eine gottverdammte Schande.« Es hielt sie nicht auf
dem Stuhl. Trieb sie, hin und her zu gehen. »Und auch ein verheerender Fehler.
Ich war immer für Gerechtigkeit. Wenn man sie nicht erhält, muss man selbst
dafür sorgen. Und wer wäre dazu besser geeignet als ich? Schließlich stamme ich
von den Besten der Besten ab.«
    Hoch erhobenen Hauptes blieb sie dicht vor mir stehen und starrte
mir ins Gesicht. Trotz des matten Lichts konnte ich goldene Tupfer in ihren
Augen erkennen. Schön waren sie, ihre Augen. Und da war Wahnsinn.
    Abrupt setzte sie ihren Weg in dem engen Raum fort. »Es war so
einfach. Nur eine kleine Spritze. Zum richtigen Zeitpunkt. Kurz vor
Schlafenszeit, als sie bereits ihre normale Einheit Insulin bekommen hatten.
Die beklagenswerten Diabetiker. Ich schickte noch ein bisschen mehr davon durch
ihren Körper. Ein bisschen viel

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