Unheil
Gutteil daran lag, dass sie ebenso normalerweise jede Gelegenheit nutzte,
um sich in Form zu halten und die fünf Treppen im Laufschritt nahm), aber heute
war sie nicht nur auÃer Atem, sondern völlig am Ende. Ihr Herz pumpte, als
wolle es ihr einfach aus der Brust springen, und ihre Hände und Knie zitterten
so stark, dass sie eine geschlagene Minute lang einfach dastand und gar nichts
tat, bevor sie die Hand nach dem Klingelknopf ausstreckte.
 Unter ihr fiel eine Tür ins
Schloss, und Conny zog die Hand so hastig zurück, als wäre ihr gerade noch im
allerletzten Moment klar geworden, dass sie im Begriff stand, eine glühende
Herdplatte zu berühren, und trat stattdessen an das kunstvoll gedrechselte
Treppengeländer, um nach unten zu sehen. Ein Schatten verschwand gerade noch
rechtzeitig genug aus ihrem Blickfeld, um sie erkennen zu lassen, dass dort überhaupt jemand war (oder etwas?), aber nicht, wer (oder
was?), und Connys Herz begann abermals schneller zu schlagen. Ihre Finger
schlossen sich so fest um das Treppengeländer, dass es wehtat. Also war es doch
keine Einbildung gewesen. Jemand verfolgte sie (vielleicht Vlad?), und jetzt
war er dort unten und kam die Treppe herauf. Sie konnte seine Schritte hören,
leise und irgendwie mühsam, wenn auch auf eine sonderbar unaufhaltsame Art von
Zielstrebigkeit erfüllt, und â¦
»Conny?«
Zum zweiten Mal binnen weniger Augenblicke fuhr sie erschrocken
herum und blickte verwirrt in ein schmales, von einer modischen schwarzen
Kurzhaar-Frisur eingerahmtes Gesicht, das irgendwann einmal sehr hübsch gewesen
sein musste, jetzt aber nur noch müde, blass und von einem unauslöschlich
wühlenden Schmerz gezeichnet war. Und sie starrte dieses Gesicht tatsächlich
eine halbe Sekunde lang an, bevor sie es überhaupt erkannte.
»Conny?«, fragte Sylvia noch einmal. »Ist alles in Ordnung?«
»Ich ⦠ja, sicher«, antwortete sie stockend. Die Schritte unter ihr
kamen näher. Sie waren zu schwer. Zu gleichmäÃig. »Es ist alles okay«,
versicherte sie. »Ich bin nur ein bisschen auÃer Atem. Ich habe dir doch
gesagt, deine Treppe bringt mich eines Tages noch um.«
Sylvia legte den Kopf auf die Seite und maà sie mit einem langen,
skeptischen Blick. Ihre Erklärung konnte nicht besonders überzeugend geklungen
haben, denn sie sagte zwar nichts mehr, trat aber mit ein paar schnellen
Schritten neben sie und beugte sich ebenfalls über das Geländer, um einen
langen, nachdenklichen Blick in die Tiefe zu werfen. Auch Conny blickte noch
einmal nach unten, wobei sie gegen eine vollkommen irrationale, immer stärker
werdende Furcht vor dem ankämpfen musste, was sie dort unten sehen würde. Der
Schatten tauchte erneut auf, klein und breitschultrig und sonderbar gedrungen,
und die Schritte waren nun hörbar näher gekommen. Sylvia richtete sich auf und
bedachte sie mit einem neuerlichen und diesmal noch tieferen Stirnrunzeln. »Das
ist nur Frau Rossmann aus dem zweiten Stock. Sie hat immer mehr Mühe, mit ihren
Einkäufen die Treppen zu schaffen â aber komm bloà nicht auf die Idee, ihr
Hilfe anzubieten, wenn dir dein Leben lieb ist.« Sie maà sie mit einem
intensiven Blick und sah plötzlich ein bisschen besorgt aus. »Hast du jemand
anderen erwartet?«
»Nein«, erwiderte Conny rasch. »Wie gesagt: Diese verdammte Treppe
ist eines Tages noch mein Tod.«
Sylvia ging zwar nicht weiter auf das Thema ein, sah jedoch noch
einmal und eindeutig länger, als notwendig gewesen wäre, den Treppenschacht
hinab und machte erst dann eine einladende Kopfbewegung auf die offen stehende
Wohnungstür hinter ihnen. Conny erinnerte sich plötzlich wieder daran, wie oft
sie Sylvia vorgeschlagen hatte, die uralten Angeln zu ölen, deren erbärmliches
Quietschen man bis auf die StraÃe hinaus hören konnte, oder es auch selbst zu
tun. Jetzt hatte sie nicht einmal gemerkt, dass die Tür hinter ihr aufgegangen
war. Ihr Herz klopfte noch immer, und auch ihre Hände hatten noch nicht
vollständig aufgehört zu zittern.
»Der Kaffee ist kalt«, sagte Sylvia, während sie an ihr vorbei und
mit schnellen, irgendwie aber nicht wirklich sicheren Schritten in die Wohnung
zurückging. »Du bist zu spät.«
»Entschuldige«, sagte Conny. »Ich wurde ⦠aufgehalten.«
Sylvia ging weiter, ohne sich auch nur zu ihr
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