Unheil
es ihr schwer,
weiterzusprechen. Sie tat es trotzdem. »Eigentlich bin ich gekommen, um noch
einmal mit dir über Lea zu sprechen. Wenn es dir nichts ausmacht.«
»Warum?«
»Es ist nur so ein Gefühl. Es geht um Aisler. Siehst du, wir
versuchen gerade mehr über ihn herauszufinden. Wer er war. Was er getan hat,
warum er so geworden ist, wie er war â¦Â« Sie hob die Schultern. »Die übliche
Polizeiarbeit eben.«
»Und wozu?«, wollte Sylvia wissen. »Der Kerl ist tot, und gut.«
»Ja, sicher«, antwortete Conny vorsichtig. »Trotzdem ist es wichtig,
solche Leute zu verstehen.« Sie hob erschrocken die Hand, als sie sah, dass
Sylvia wieder auffahren wollte. »Nein, nicht so. Niemand will Verständnis für
ihn haben. Ich jedenfalls nicht.«
»Du klingst aber so«, antwortete Sylvia, jetzt eindeutig feindselig.
»Der Kerl hat auch versucht, mich umzubringen, hast du das schon
vergessen?«, antwortete Conny. »Ich wollte ihn nicht töten, aber glaub mir, es
tut mir keine Sekunde lang leid.«
»Bestimmt nicht?«, fragte Sylvia höhnisch. »Ich meine: Du bist tief
in dir nicht der Ãberzeugung, dass Leute wie er im Grunde nur arme Kranke sind,
die unser Mitleid verdienen, weil in Wahrheit ihre Eltern, die Gesellschaft
oder überhaupt das Leben schuld an dem sind, was sie getan haben?«
»Und die nicht eingesperrt gehören, sondern in eine
Nervenheilanstalt mit Swimmingpool und Kabelfernsehen und einer Menge hoch
bezahlter Spezialisten, die sie therapieren und ihnen nach fünf Jahren
bescheinigen, dass sie wieder völlig geheilt sind und sie dann wieder auf die
Menschheit loslassen, damit sie noch ein paar Kinder umbringen?« Conny
schüttelte heftig den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Aber ich versuche Leute wie
Aisler trotzdem zu verstehen.Ich will wissen, warum sie tun, was sie tun.«
»Weil sie verrückt sind?«, schlug Silvia vor. Sie trank nun doch â
genauer gesagt stürzte sie auch den Inhalt ihres zweiten Glases in einem
einzigen Zug herunter â stampfte ihre noch nicht einmal halb aufgerauchte
Zigarette in den Aschenbecher und zündete sich sofort eine neue an.
Conny konnte gar nicht mehr sagen, wie oft sie dieses Gespräch â teilweise
wortwörtlich â schon geführt hatten. Natürlich war es vollkommen sinnlos, ein
solches Gespräch mit dem Angehörigen eines Opfers überhaupt zu beginnen. Sie
fuhr trotzdem fort: »Vielleicht verstehen wir eines Tages ja, wie solche Leute
ticken. Ich bin kein Psychologe â¦Â«
»Gott sei Dank nicht!«
»â¦Â aber ich will es einfach wissen«, fuhr sie unbeeindruckt fort.
»Ich weiÃ, dass es Lea nichts mehr nutzt, aber vielleicht irgendwann
irgendeinem anderen Mädchen, das möglicherweise dem nächsten Verrückten nicht
mehr zum Opfer fällt, wenn wir ihn früh genug kriegen.«
Sie konnte Sylvia ansehen, wie wenig sie diese Worte beeindruckten.
Sie interessierten sie nicht. »Und was hat das jetzt mit Lea zu tun?«
»Wahrscheinlich gar nichts«, gestand Conny. »Ich weiÃ, du hast uns
damals schon alles erzählt, was wir wissen wollten. Trotzdem würde ich mir
gerne noch einmal ihr Zimmer ansehen, wenn du nichts dagegen hast.«
Sylvia hob nur die Schultern. »Was immer du willst. Du kennst ja den
Weg.« In ihrer Stimme war plötzlich eine Feindseligkeit, die Conny erschreckte.
Anscheinend war ihr Versuch, ihre Bitte möglichst schonend vorzutragen,
gründlich schiefgegangen. Doch sie sagte nichts mehr, sondern belieà es bei
einem angedeuteten Nicken und erhob sich, um in Leas Zimmer hinüberzugehen.
Sylvia sagte nichts mehr, was nichts daran änderte, dass sie ihre Blicke mit
fast körperlicher Intensität spüren konnte. Es war kein angenehmes Gefühl.
Als Lea elf Jahre alt geworden war, hatte ihre Mutter die Wohnung
umgeräumt und ihr das gröÃte Zimmer überlassen â das objektiv betrachtet immer
noch winzig war, aber nicht annähend so klein wie die bewohnbare Besenkammer,
die im Mietvertrag als Kinderzimmer deklariert war. Anders als drüben im
Wohnzimmer waren die Jalousien hier nicht heruntergezogen. Conny blinzelte und
hob ganz instinktiv die Hand über die Augen, als sie in die gleiÃende
Helligkeit hineintrat, die ihr nach dem schattigen Halbdunkel von gerade noch
unnatürlicher und quälender verkam. Um ein Haar
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