Unheil
hätte sie die Sonnenbrille
wieder aufgesetzt, und eigentlich tat sie es nur deshalb nicht, weil ihr die
Vorstellung peinlich war, dass Sylvia hereinkommen und sie dabei überraschen
könnte, wie sie Leas Sachen durchstöberte und dabei eine alberne Sonnenbrille
trug; wie ein Kind, das sich als Geheimagent verkleidet hatte.
Nicht, dass sie tatsächlich vorhatte, groÃartig herumzuschnüffeln.
Es gab in diesem Zimmer nicht viel, was sie nicht mindestens einmal in der Hand
gehalten und aufmerksam begutachtet hatte, und ihre Kollegen noch ungleich öfter.
Eine ganze Weile stand sie einfach nur da, sah sich um und fragte
sich, wonach sie eigentlich suchte. Lea war das erste Opfer des Vampirs
gewesen, und es hatte die gleichnamige SOKO noch
gar nicht gegeben (und somit auch keinen Eichholz, der sie von der Front
abziehen und zum Kaffeekochen und Fotokopieren einteilen konnte), und sie hatte
die Ermittlungen vor Ort noch persönlich geleitet. Sie kannte jeden
Quadratzentimeter dieses Zimmers, den Inhalt jeder Schublade und den Titel
jedes einzelnen Buchs, das im Regal stand, und das vermutlich genauso gut wie
Sylvia; wenn nicht sogar besser. Und sie kannte auch Leas Leben, zumindest das,
das sie die letzten zwei oder drei Jahre geführt hatte, und das sogar ganz eindeutig besser als sie. Sie hatte ein paar Dinge
herausgefunden, von denen sie Sylvia bis heute nichts erzählt hatte und es auch
nicht tun würde, wenn sie nicht dazu gezwungen war â Lea war nicht der
unschuldige Engel gewesen, als den Sylvia sie gesehen hatte, sondern eine ganz
normale Sechzehnjährige mit all ihren Ecken und Kanten und kleinen
Besonderheiten, die gegen das Leben und die bestehenden Regeln aufbegehrte, wie
es in diesem Alter üblich ist, und sich dabei auch schon die eine oder andere
blutige Nase geholt hatte. Im vergangenen Jahr hätte sie um ein Haar die
Versetzung nicht geschafft, und kurz darauf war sie mit zwei Gramm Marihuana
erwischt worden. Irgendwie war es ihr gelungen, dass Sylvia von beidem nichts
erfuhr, und Conny hatte keine Notwendigkeit gesehen, es ihr im Nachhinein zu
erzählen, so wenig wie ein paar andere Dinge, die sie von ihren Freundinnen
oder in der Schule erfahren hatte. Nichts davon war so, dass Sylvia Grund
gehabt hätte, sich Sorgen zu machen, und nichts hatte irgendwie mit der
schrecklichen Art und Weise zu tun, auf die Lea ums Leben gekommen war.
Was also hatte Vlad gemeint, als er behauptet hatte, ihre Kollegen
hätten nicht gründlich genug gesucht? Die Kollegin, die hier gesucht hatte, war sie gewesen! Wenn es hier etwas gab, das ihr in
irgendeiner Form weiterhelfen konnte, dann hätte sie es längst gefunden. Es gab
in diesem Zimmer kein Versteck, das sie nicht entdeckt und sozusagen mit dem
Mikroskop untersucht hätten.
Es sei denn, das, wonach sie suchte, war überhaupt nicht versteckt.
Was, wenn es die ganze Zeit über ganz offen da gewesen war?
Eine geraume Weile stand sie einfach da und sah sich um, wobei sie
gar nicht versuchte, auf irgendwelche Einzelheiten zu achten oder vielleicht
Details zu erkennen, die ihr vorher nicht aufgefallen waren, sondern einfach
das Zimmer in seiner Gesamtheit auf sich wirken lieÃ; ein Trick, der nicht neu
war und schon oft zu ganz erstaunlichen Ergebnissen geführt hatte.
Heute nicht.
Das Zimmer blieb, was es war: das Zimmer einer ganz normalen
Sechzehnjährigen, an dem es absolut nichts AuÃergewöhnliches zu geben schien.
Die Wände waren in einem freundlichen Hellblau gestrichen und über
und über mit Postern und sorgfältig gerahmten Bildern behangen, bei denen es
kein System oder gar ein durchgehendes Motiv zu geben schien. Lea hatte
anscheinend alles aufgehängt, was ihr gerade in die Finger gefallen war und in
diesem Moment gefallen hatte: Es gab Landschafts- und Tierbilder. Blumenmotive
und die üblichen Poster von Schauspielern oder Popgruppen, sogar ein DIN -A3 groÃes Poster einer chromblitzenden Harley, auf
deren Sattel sich ein spärlich bekleidetes Starlet rekelte und das sie eher an
der Wand eines Jungenzimmers erwartet hätte als hier, aber nichts von alledem
war irgendwie besonders, und nichts offenbarte beim zweiten â oder auch beim
zwanzigsten â Hinsehen eine andere Bedeutung als die, die es so ganz
offensichtlich hatte.
Sie trat an den winzigen, aber pedantisch aufgeräumten Schreibtisch
heran, lieà ihren Blick unschlüssig darübertasten und
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