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Unheil

Unheil

Titel: Unheil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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einfach
schnappen, die ihr Zeug auf den Schulhöfen verkaufen, und sie verschwinden
lassen? Wie viele Existenzen würden nicht vernichtet, wenn wir einschreiten
dürften, bevor etwas passiert ist? Um wie vieles
besser wäre diese Welt, wenn die Verbrecher vor uns ebenso große Angst hätten,
wie ihre Opfer vor ihnen?«
    Conny spürte ein neuerliches, noch viel eisigeres Frösteln, als sie
an ihr letztes Gespräch mit Sylvia dachte. Ihre ehemalige Schulfreundin hatte
nicht wirklich, sehr wohl aber sinngemäß dasselbe gesagt, und die Wahrheit war:
Tief in sich drinnen hatte sie ihr recht gegeben. Sie
tat es noch. Und sie dachte an Frank zurück, den Jungen mit dem zerschnittenen
Gesicht und dem Messer, den sie beinahe umgebracht hätte, ohne es zu bedauern.
Vergeblich – ja, beinahe verzweifelt – suchte sie wenigstens jetzt in ihrem
Inneren nach einer Spur von Bedauern, von Schuld oder schlechtem Gewissen, doch
da war nichts. Ganz im Gegenteil: Wenn Sie etwas bedauerte, dann ihn nicht getötet zu haben.
    Trotzdem und so leise und mitfühlend, wie sie konnte, fragte sie:
»Und was wäre aus Ihnen geworden?«
    Â»Was ist aus mir geworden?«, gab Trausch
mit einem leisen, bitter klingenden Lachen zurück. »Ein verkrachter Polizist,
der irgendwie versucht, die letzten Wochen bis zu seiner vorzeitigen
Pensionierung zu überstehen und sich jetzt schon vergeblich fragt, was er mit
all der Zeit wohl anfangen wird. Meine Frau hat mich verlassen, weil meinem
kometenhaften Aufstieg ein ebenso schnelles Verglühen gefolgt ist – was ein
Glück war –, meine Kinder verachten mich, und meine Kollegen werden mich nach
einer Woche beinahe und nach einem Jahr endgültig vergessen haben. Ich kann
stolz auf mich sein!«
    Â»Das können Sie wirklich«, warf Conny ernst ein. »Sie haben es
gerade selbst gesagt, erinnern Sie sich? Sie wären daran zerbrochen.«
    Â»Wer spielt jetzt den Advocatus Diaboli?«, antwortete er ernst,
schnitt ihr aber zugleich auch mit einer neuerlichen Handbewegung das Wort ab
und machte eine Geste, die wohl bedeuten sollte, dass das Thema damit für ihn
erledigt sei. Für Conny war es das nicht. Ganz im Gegenteil. Im ersten Moment
war sie verwirrt gewesen, dass er überhaupt damit angefangen hatte, jetzt
fühlte sie sich aufgewühlt und zutiefst verunsichert. Sie hatte ihn
kennenlernen wollen, aber nicht auf diese Weise. Der Einblick, den er ihr in
seine Seele gewährt hatte, war nicht nur intimer und tiefer, als sie es jemals
gewollt hatte, er berührte auch etwas in ihr, das sie zutiefst erschreckte. Sie
hatte das nicht haben wollen, und sie wollte es auch jetzt nicht.
    Â»Lassen Sie uns das Thema wechseln«, fuhr Trausch mit veränderter
Stimme fort; fast als hätte er ihre Gedanken gelesen, und wahrscheinlich hatte
er es, auf ihrem Gesicht. Sie hatte das Gefühl, so etwas wie ein Lächeln über
sein immer noch halb im Schatten verborgenes Gesicht huschen zu sehen. Er regte
sich in seinem Stuhl, und wie als Reaktion darauf schien ein ganz sachtes
Zittern und Regen durch die Schatten hinter ihm zu gehen; ein lautloses
Seufzen, mit dem die Wirklichkeit wieder erwachte. Conny blinzelte ein paarmal.
Was waren das für Gedanken? War das wirklich … sie? »Ich wollte nicht an ihr
Mitleid appellieren, Conny. Sie sollen nur wissen, dass ich Sie verstehe.«
    Sie räusperte sich, stellte ihr Glas mit einer demonstrativen
Bewegung ab und richtete sich noch demonstrativer kerzengerade in ihrem Stuhl
auf. »Sie täuschen sich«, sagte sie. Ihre Stimme war nicht so fest, wie sie es
sich gewünscht hatte. »Vlad existiert. Er ist real. Ich habe ihm
gegenübergestanden. Er war mir näher als Sie jetzt.« Sie schüttelte heftig den
Kopf. »Nein. Glauben Sie mir – ich würde mir wünschen, er wäre nichts als ein
Gespenst. Aber das ist er nicht.«
    Â»Dann haben Sie ein Problem«, stellte Trausch fest.
    Conny konnte nur wortlos darauf nicken. Sie lauschte in sich hinein.
Da war noch immer etwas, das ihr Angst machte, gestaltlos und leise jetzt, wenn
auch auf eine furchtbare Art präsent. Als wäre er da, jetzt, hier in diesem
Raum und in diesem Moment, unsichtbar und lauernd und nur darauf wartend, dass
sie einen Fehler machte, für einen unendlich kurzen Augenblick den Schild
herunternahm, der sie bis jetzt immer noch davor bewahrt hatte, endgültig

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