Unheilige Gedanken auf dem Heiligen Weg, mein Jakobsweg quer durch Spanien
Flusstäler und den Bergzug des Oribio im Hintergrund. So möchte ich immer weiter laufen. Ich trällere vor mich hin: "Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen." Ja, und es ist wirklich eine Augenweide, jetzt, im späten Frühling, Ende Mai. Der Duft von Ginster hängt in der Luft und noch sind die Felder grün, genauso wie die weitläufigen Wälder und Wiesen. Ich liebe es! Die Kälte habe ich überwunden, dafür werde ich jetzt mit einer sprießenden und blühenden Natur belohnt.
In Sarria finde ich einen Kilometerstein mit der Angabe 111 km bis Santiago. Ich kann es nicht fassen. Ich bekomme fast einen Schock, weil mir bewusst wird, dass sich mein Jakobsweg dem Ende zuneigt. Nein, ich freue mich nicht, so nahe am Ziel zu sein. Wochenlang fieberte ich darauf hin, in Santiago de Compostela anzukommen. Und jetzt, da das Ziel so nahe ist, durchzuckt mich nur ein Gedanke: "Was bitte soll ich tun, wenn ich nicht mehr auf dem Weg bin? Was soll ich tun, wenn es keinen Grund mehr gibt, zu Fuß unterwegs zu sein? Was kann man anderes tun, als gehen?"Nach dem Motto: "Yo camino (ich pilgere), darum bin ich." Ich weiß natürlich, dass meine Panik irrational ist. Aber mein Gefühl ist so überwältigend, dass ich mich neben dem Stein auf den Boden setze und ratlos vor mich hin starre. Ich muss mich fassen. Pilger gehen an mir vorbei und fragen, ob sie mir helfen können. Ich sehe wohl gerade nicht sehr gesund aus. Wie konnte mir dieser Kilometerstein solch einen Schrecken versetzen? Ich versuche mich zu sammeln und einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Ich habe das Gefühl, wertvolle Pilgerzeit mit den anstrengenden Gesprächen mit Freddy verloren zu haben. Aber das stimmte natürlich so nicht. Auch das war der Camino und gerade mit diesen Auseinandersetzungen lernte ich mich selbst besser kennen. Langsam beruhige ich mich und beginne, meine Angst zu verstehen. Ich hatte noch nicht alles gelernt, noch nicht alle Geschenke des Weges angenommen, noch nicht alle Erfahrungen gemacht, die ich machen wollte. Ich bin noch nicht bereit, anzukommen. Ich würde die letzten Tage noch bewusster gehen, noch wacher sein und alle Eindrücke aufsaugen. Ja, ich konnte meinem Weg noch alles entlocken, was für mich wichtig war. Es ging nicht um die Zeit, die ich noch hatte, nicht um die Tage, die ich noch unterwegs sein würde, es ging um einen offenen Geist, ein weites Herz und die Bereitschaft, die Geschenke des Weges zu erkennen und anzunehmen. Dafür war ich bereit! Und ich würde wiederkommen. Dieser Gedanke war besonders tröstlich.
Die fehlende Erfahrung
Ich überquere den Bach, Rego de Marzán, mittels eines Steinplattensteges und langsam geht es wieder aufwärts, über die Dörfer Peruscallo und Brea nach Ferreiros. 29 Kilometer bin ich heute gelaufen und ich bin froh, in dem urigen Bergdorf mit den üppigen Wiesen angekommen zu sein. Nun sollte ich eine nichtgemachte Erfahrung nachholen können. Es gibt kein Bett, keinen Schlafplatz für mich. Und es ist dämmrig geworden. Und ich bin müde und kann nicht noch weiter gehen. Alle Bodenplätze sind belegt. Wie ein buntes Mosaik sieht es in der Herberge aus. Überall in den Winkeln und Nischen liegen ausgebreitet bunte Isomatten. Ich bin zu kleinlaut, um mit Santiago zu schimpfen. Ich wollte doch noch jede mögliche Erfahrung machen. Ich schaue mich in der Herberge um und finde im Aufenthaltsraum ein paar abgewetzte Ledersessel. Ich lasse mich in einem nieder und lege erst mal die Füße hoch. Da kommt Freddy hereinspaziert und fragt mich, ob ich auch schon die Kunde vernommen hätte, dass wir diesmal ohne ein Bett dastehen würden. Er scheint gut drauf zu sein. Er freut sich, dass Santiago nicht mehr weit ist. Und eingelaufen hat er sich inzwischen auch. Und Freunde gefunden hat er auch. Er sagt, ich solle mal aufstehen, was ich etwas unwillig tue. Da schiebt er die Ledersessel zusammen und sagt: "So, Laura, damit hast du schon mal dein Bett!" Ich lächle ihn dankbar an und breite meine Isomatte und meinen Schlafsack auf der improvisierten Schlafstatt aus. Er findet für sich auch noch ein paar Sessel, die er zusammenschiebt und nachdem auch er sein "Bett" gemacht hat, lädt er mich zum Essen in die Bar gegenüber ein. "Wir sollten ein paar Gläser mehr trinken als sonst, dann schlafen wir besser!", meint Freddy zu mir. Der Wein schmeckt köstlich, wie immer nach einem langen Wandertag, und ich lasse es mir nicht zweimal sagen und lange nicht nur beim Essen tüchtig zu.
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