Unheilige Gedanken auf dem Heiligen Weg, mein Jakobsweg quer durch Spanien
Gut gesättigt und müde richten wir uns auf unseren viel zu kurzen Betten ein. "Danke, Santiago, danke, Freddy", kann ich gerade noch denken, dann falle ich in einen tiefen Schlaf.
Ultreya!
Nach dem gemeinsamen Frühstück in der Bar verabschiede ich mich von Freddy, der mir das nicht mehr krumm nimmt, mit dem Pilgergruß und laufe los.
Ein letzter Höhenrücken muss überwunden werden, bevor ich das Tiefland Galiciens erreiche. Die ersten steinernen Wegkreuze, die Cruzeiros, und erste Eukalyptusbäume säumen meinen Weg, die mich noch weiter bis Santiago de Compostela begleiten werden.
Ich achte bewusst darauf, alles wahrzunehmen und aufzusaugen. Es scheint einigen Pilgern wie mir zu gehen. Es herrscht eine unbestimmte Traurigkeit, eine gedrückte Stimmung auf dem Weg. Ich spreche mit den Menschen, die mir begegnen und sie bestätigen mir, diese diffuse Angst vor dem Ankommen zu kennen. Sarah aus Kanada beteiligt sich an einem dieser Gespräche. Sie ist froh, im Gegensatz zu mir, endlich anzukommen. Das glaube ich ihr. Sie hat nur ein Bein und zwei Krücken. Ich spreche ihr meine Hochachtung aus. Was sie geleistet hat, ist unglaublich. Sie strahlt, trotz ihrer Müdigkeit. Sie freut sich darauf, bald in der Kathedrale zu sitzen. Ich umarme sie und wünsche ihr alles Glück der Welt.
Mir fällt auf, dass ich schon länger keines der bekannten Gesichter meiner Mitpilger mehr gesehen habe. Wo sind sie abgeblieben? Meine Lilly-Marleen und ihr Heinzi, Bertl aus München und Leandro aus Brasilien, meine Wegbegleiter in den Pyrenäen am allerersten Tag, der gesprächige Ewald aus Wien, die süße Marga und die weise Moni, der Große, der aus fast nichts eine köstliche Suppe gezaubert hatte und el Americano, dessen Rat, mich bei Pausen immer hinzulegen, mir den ganzen Weg erleichtert hatte, Frank aus Berlin, Hermann und die ganze Clique aus Österreich? Sie fehlten mir alle so sehr. Ich nehme den Abschiedsschmerz vorweg, dem ich nicht entkommen würde. Ich leide und will es gerade auch. "Wie sollte mein Leben nach dem Weg weitergehen, ohne meine Pilgerfreunde?", denke ich theatralisch. Tränen laufen mir übers Gesicht. Hilflos stehe ich einfach so mitten auf dem Weg und überlasse mich meinem Kummer. Da nimmt mich jemand in den Arm und drückt mich ganz fest. Ich kenne ihn nicht. Aber ich spüre die Liebe und das Mitgefühl. Und ich lerne meine nächste Lektion: Überall sind Menschen, die mir wohlgesonnen sind, wenn ich mich öffne und ihre Zuwendung annehme. Ich trockne die Tränen, teile ebenso trockenes Brot mit dem neuen Freund und wir gehen ein Stück des Wegs gemeinsam, kauend und schweigend. Es braucht keine Worte. Wir verstehen uns.
Vielleicht würde ich in der nächsten Herberge ja auch wieder ein paar liebgewordenen Mitpilgern begegnen. Schon den ganzen Weg über durfte ich solch wunderbare Überraschungen erleben. Aber in diesem gruseligen Refugio, direkt an der Fernstraße in Narrón würde ich auf keinen Fall bleiben. Laut meinem Führer gibt es eine kleine Hospederia mit Küche und 18 Plätzen, eine Stunde weiter in Eirexe. Das würde ich schaffen. Der Anstieg bis hier her war mäßig und nach Eirexe geht es leicht bergab. 26 Kilometer sind, wenn nicht zu viele Höhenmeter dabei sind und nicht gerade die Sonne erbarmungslos auf den Weg brennt, nicht mehr so herausfordernd für mich.
Ich lande in Eirexe, einem Bauerndorf mit einer schnuckeligen Albergue, regiert von Maria, einer entzückenden Hospidalera und freue mich, dass ich meinem Impuls, weiter zu gehen, gefolgt bin. Es gibt richtig viel Platz hier, um mich auszubreiten, superbequeme Betten und eine Küche mit ein paar Vorräten an Essbarem, von freundlichen Pilgern brav mit dem gestrigen Datum versehen. Maria nimmt sich die Zeit und setzt sich zu mir und ich frage sie, was sie dazu bewogen hat, Dienst auf dem Weg zu tun. Sie erzählt mir ihre ganz persönliche Geschichte und ich fange an darüber nachzudenken, auch einmal eine Saison als Herbergsmutter auf dem Camino zu arbeiten. Das mütterliche Alter von 50 Jahren, hätte ich ja bald erreicht. "Es ist eine anstrengende, aber dennoch lohnende Arbeit", erzählt mir Maria. Ich verstehe sie gut, als sie von der Freiheit spricht, die sie dabei empfand, als sie sich aus ihrem Alltagsleben ausklinkte. Das war genau mein Thema: Freiheit! Solange ich dem Freiheitsgefühl nachjagte, war ich nicht frei, das hatte ich verstanden. Wieder höre ich, dass ich nur in mir selbst Freiheit finden kann. Ich
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