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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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hervorgegangen, oder genauer gesagt, aus dem Versuch, eine Lehre von der Natur des Universums und der Stellung des Menschen darin mit einer praktischen Ethik zu vereinen, die lehrt, was als die beste Lebensführung zu gelten hat. Philosophie unterschied sich – zumindest nominell – von der Religion dadurch, dass sie sich auf keine Autorität oder Tradition berief; von der Wissenschaft unterschied sie sich insofern, als sie in erster Linie dem Menschen eine Anleitung zum Leben zu geben suchte. Ihre kosmologischen und ethischen Theorien waren eng miteinander verquickt: manchmal beeinflussten ethische Motive die Ansichten des Philosophen über die Natur des Universums, manchmal führten ihn seine Ansichten über den Kosmos zu ethischen Schlussfolgerungen. Bei den meisten Philosophen schlossen die moralischen Ansichten politische Konsequenzen ein; einige vertraten das System der Demokratie, andere das der Oligarchie; einige priesen die Freiheit, andere die Disziplin. Fast alle erdenklichen philosophischen Richtungen übrigens wurden schon von den Griechen entwickelt, und die Kontroversen der heutigen Zeit beschäftigten bereits die Vorsokratiker.
    Das Hauptproblem von Ethik und Politik besteht darin, auf irgendeine Weise die Erfordernisse des Gemeinschaftslebens mit den Wünschen und Begierden des Individuums in Einklang zu bringen. Das wurde – sofern es überhaupt möglich war – mit Hilfe verschiedener Mittel erreicht. Wo es eine Regierung gibt, kann zur Verhinderung von anti-sozialen Handlungen derjenigen, die der Regierung nicht angehören, das Strafgesetz gebraucht werden, und das Gesetz kann durch Religion gestärkt werden, insofern die Religion lehrt, dass Ungehorsam gottlos sei. Wo es eine Geistlichkeit mit genügend starkem Einfluss gibt, um ihre Moralgesetze bei weltlichen Herrschern durchzusetzen, werden selbst die Herrscher in gewissem Ausmaß dem Recht unterworfen; es gibt hierfür eine Fülle von Beispielen im Alten Testament und in der mittelalterlichen Geschichte. Könige, die wirklich an eine göttliche Weltherrschaft und an Lohn und Strafe in einem jenseitigen Leben glauben, fühlen sich weder allmächtig noch fähig, ungestraft zu sündigen. Dieses Gefühl wird etwa von dem König in Shakespeares »Hamlet« zum Ausdruck gebracht, wenn er die Unbeugsamkeit der göttlichen Gerechtigkeit mit der Gefügigkeit irdischer Richter gegenüber der königlichen Macht vergleicht.
    Soweit Philosophen sich mit dem Problem der Erhaltung des Sozialgefüges befasst haben, strebten sie nach Lösungen, die weniger offenkundig von Dogmen abhingen als diejenigen, die ihrerseits die offiziellen Religionen anzubieten hatten. Die meisten Philosophien sind die Reaktion auf einen Skeptizismus gewesen; sie sind in Epochen entstanden, in denen die Autorität allein nicht mehr zur Erzielung des für die Gemeinschaft notwendigen Minimums an Glauben ausreichte, so dass zur Erreichung dieses Resultats neue Argumente gefunden werden mussten, die wenigstens ihrem äußeren Anschein nach vernunftgemäß waren. Dieser Beweggrund hat zu einer tiefen Unaufrichtigkeit geführt, mit der die meisten Philosophien sowohl des Altertums wie der Neuzeit behaftet sind. Eine oft nur unbewusste Furcht, dass klares Denken zu Anarchie führen könnte, hat oft die Philosophen bewogen, sich in die Nebelwolken trügerischer und dunkler Behauptungen zu hüllen.
    Selbstverständlich hat es Ausnahmen gegeben; die bemerkenswertesten sind Protagoras im Altertum und Hume in der Neuzeit. Beide waren auf Grund ihres Skeptizismus politisch konservativ. Protagoras war sich nicht klar, ob die Götter existierten, aber er hielt daran fest, dass sie auf jeden Fall verehrt werden sollten. Nach seiner Auffassung hatte die Philosophie nichts Erbauliches zu lehren, und musste man sich, wenn man die Moral erhalten wollte, auf die Gedankenlosigkeit der großen Masse und ihre Bereitschaft verlassen, zu glauben, was man sie gelehrt hatte. Deswegen durfte nichts getan werden, was die volkstümliche Kraft der Tradition zu schwächen geeignet war.
    Bis zu einem gewissen Grade kann das gleiche von Hume gesagt werden. Nach dem er seine skeptischen Gedankengänge entwickelt hatte, die, wie er selbst zugibt, keinem Menschen als Leitfaden für seine Lebensführung dienen könnten, ging er zu einem praktischen Ratschlag über, der jedermann davon abgehalten hätte, ihn überhaupt zu lesen. »Nur Nachlässigkeit und Unaufmerksamkeit«, sagt er, »können uns helfen. Aus diesem

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