Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Der Handel bringt die Menschen mit bodenständigen Lebensformen in Berührung, die sich von ihren eigenen unterscheiden, und zerstört dadurch den Dogmatismus, der allen Sesshaften eigen ist. Das Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer ist das einer Verhandlung zwischen zwei freien Partnern; und es ist höchst vorteilhaft, wenn der Käufer oder Verkäufer in der Lage ist, sich in die Lage des anderen Partners hineinzuversetzen. Es gibt natürlich auch einen imperialistischen Handel, bei dem der andere mit vorgehaltener Pistole zum Kaufen gezwungen wird; aber durch ihn entstehen keine liberalen Philosophien, wie sie am besten in Handelsstädten geblüht haben, die bei allem Wohlstand in militärischer Hinsicht ziemlich bedeutungslos waren. In der Gegenwart haben die kleinen Länder wie die Schweiz, Holland und die skandinavischen Staaten die größte Ähnlichkeit mit den Handelsstaaten des Altertums und des Mittelalters.
Das liberale Glaubensbekenntnis äußert sich in der Praxis im Prinzip des Leben-und-leben-Lassens, als Toleranz und Freiheit, soweit die öffentliche Ordnung es zulässt, als Mäßigung und Meidung von Fanatismus in politischen Programmen. Selbst die Demokratie hört auf, liberal zu sein, wenn sie fanatisch wird, wie in der Französischen Revolution bei den Schülern Rousseaus; ein fanatischer Glaube an die Demokratie hebt sie tatsächlich auf, wie sich in England unter Cromwell und in Frankreich unter Robespierre gezeigt hat. Der echte Liberale sagt nicht: »Dies ist die Wahrheit«, sondern: »Ich neige zu der Ansicht, dass unter den gegenwärtigen Umständen diese Meinung wahrscheinlich die beste ist«, und wird darum auch nur in diesem begrenzten und undogmatischen Sinn die Demokratie befürworten.
Was hat nun die theoretische Philosophie über die Richtigkeit der liberalen Anschauungsweise zu sagen? Das Wesen der liberalen Anschauungsweise liegt nicht so sehr in den Meinungen, die vertreten werden, als in der Art und Weise, wie sie vertreten werden; nicht dogmatisch, sondern mit dem Bewusstsein, dass neues Beweismaterial jederzeit zu ihrer Aufgabe führen kann. Im Grunde ist dies die eigentlich wissenschaftliche Art, eine These zu vertreten, im Gegensatz etwa zur Theologie. Die Entscheidungen des Konzils von Nicäa sind auch heute noch verbindlich, in der Wissenschaft aber haben die im vierten Jahrhundert vertretenen Ansichten keinerlei Gewicht mehr. In der Sowjetunion werden die Aussprüche von Marx über den dialektischen Materialismus so kritiklos hingenommen, dass die Biologen ihre Ansichten über die besten Ackerbaumethoden davon abhängig machen, während man in der übrigen Welt annimmt, dass zur Behandlung solcher Probleme das Experiment die richtige Methode ist. Die Wissenschaft ist empirisch, experimentell und undogmatisch; jedes unveränderliche Dogma ist unwissenschaftlich. Dementsprechend ist die wissenschaftliche Betrachtungsweise das geistige Gegenstück des Liberalismus im praktischen Bereich.
Locke, der die empiristische Wissenstheorie zuerst im einzelnen entwickelte, hat gleichfalls religiöse Toleranz gelehrt und die Beteiligung des Volkes an den Regierungsinstitutionen sowie eine Begrenzung der Regierungsmacht durch ein System der gegenseitigen Kontrollen gefordert. Von seinen Lehren waren nur wenige neu, aber er entwickelte sie in gewichtiger Weise gerade zu dem Zeitpunkt, als die englische Regierung sie anzuerkennen bereit war. Wie seine Zeitgenossen im Jahre 1688 war er nur mit Zurückhaltung Revolutionär und verabscheute die Anarchie nicht weniger als den Despotismus. Sowohl im Geistigen wie im Praktischen trat er für Ordnung ohne Autorität ein, was man als Motto der Wissenschaft wie des Liberalismus bezeichnen könnte. Diese Ordnung beruht auf Zustimmung oder Übereinstimmung. Auf geistigem Gebiet bedeutet sie die Anerkennung von Beweismaßstäben, die unter Fachleuten – nach entsprechender Diskussion – zu irgendeiner Form der Übereinstimmung führen. Auf praktischem Gebiet bedeutet sie, dass man sich dem Willen der Mehrheit fügt, nachdem alle Parteien eine Möglichkeit zur Äußerung ihrer Ansicht gehabt haben.
Unter beiden Gesichtspunkten fiel Lockes Wirken in eine sehr günstige Zeit. Der große Streit zwischen dem ptolemäischen und dem kopernikanischen System war entschieden, und wissenschaftliche Fragen konnten nicht länger durch Berufung auf Aristoteles gelöst werden. Newtons Triumphe schienen einen schrankenlosen wissenschaftlichen Optimismus zu
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