Unscheinbar
weggespült. Sandrine schluchzte auf, dass es Gregor das Herz zerriss.
Eine ganze Weile standen sie so da. Er hielt sie fest und sie weinte, bis sie keine Tränen mehr übrig hatte.
Es bedurfte keiner Worte.
Als das Beben ihres Körpers nachliess, wagte es Gregor, einen Arm von Sandrine zu lösen. Aber nur, um sich ihren Koffer zu nehmen. Sanft schob er sie an. Zusammen gingen sie zu Gregors Motorrad. Wie gewohnt schnallte er ihren Koffer auf den Gepäckträger.
Nur war es dieses Mal für immer.
Die Kilometer schienen nicht weniger werden zu wollen. Gregor hatte so sehr das Bedürfnis Sandrine nach Hause zu bringen, dass ihm der Weg dorthin ewig erschien.
Nach Hause. Dorthin, wo sie genauso zu Hause war wie er selbst. Und genauso willkommen.
So war es dann auch. Mit offenen Armen wurden sie empfangen.
Ruth stand unten am Weg bereit, um Sandrine in Empfang zu nehmen. Egal, was geschehen war, egal, gegen welche Regeln der Gesellschaft ihr Sohn und Sandrine verstossen hatten, sie würde es niemals übers Herz bringen einen der beiden zu verstossen.
Und sie würde sich wehren wie ein Stier, wenn es auch nur annähernd jemand wagen sollte, die beiden an den Pranger zu stellen.
Liebe und deren Folgen war kein Verbrechen. Solange das Ehegelöbnis geleistet wurde. So schrieb es die Kirche vor, so sah es die Gesellschaft. Alles andere war Sünde und was Sünde war, war ein Verbrechen.
Aber es gab weit schlimmere Sünden, als die beiden begangen hatten.
Oder etwa nicht?
Strang 1 / Kapitel 24
Die Sirenen hallten von den steilen Abhängen wider. Ben horchte auf. Automatisch trat er ans Fenster und schob den Vorhang zurück. Das grosse Badezimmer lag unter dem Dach, das Haus war weit genug weg vom Dorf, so dass die Sicht nicht von anderen Häusern verdeckt wurde. Ausserdem lag es zwar versteckt hinter einem Fels, aber etwas erhöht, weshalb man vom Badezimmer aus einen guten Überblick über einen Teil des Tals hatte.
Da waren sie. Sie fuhren aus dem Dorf hinaus.
Wieso?
Soweit er erkennen konnte, brannte es nirgends. Er sah dem Löschzug der Feuerwehr nach, bis er aus seinem Blickfeld verschwand.
„Ben? Was ist los?“ Alice griff sich ihren Bademantel vom Haken, stand auf, wickelte sich ein und stieg aus der Wanne.
„Ich weiss es nicht. Aber ich habe ein ungutes Gefühl.“
„Ruf Kevin an.“
Ben sah Alice an, als hätte sie ihm angeboten Gift zu essen.
„Jetzt komm schon. Benimm dich nicht wie ein Zehnjähriger.“
Wo sie recht hatte…
Ben ging in den Flur und griff nach dem Hörer des alten Drehscheibentelefons. „Immer noch dieselbe Nummer?“
Alice nickte einmal kurz.
Ben wählte und wartete. Es klingelte, aber niemand hob ab. Ben drückte den Anruf weg. Alice hielt ihm einen Zettel unter die Nase mit zwei Handynummern. Ben wählte nacheinander beide. Bei beiden dasselbe: Keine Reaktion.
„Wessen Nummern waren das? Jens‘ und Kevins?“
„Genau. In der Polizei geht auch niemand ran?“
„Nein. Die sind wohl schon längst dort, wo auch die Feuerwehr ist.“
„Was nun?“
„Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass dieser Einsatz etwas mit unserem hübschen Fluch zu tun hat. Ich fahr hin.“
Ben drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und eilte zum Hauptausgang. Auf dem Weg griff er sich seine Jacke, die er achtlos über einen Stuhl geworfen hatte. Die Mühe, seine Schuhe auszuziehen hatte er sich in seinem Ärger nicht gemacht.
Im Nu sass er auf der gelben Maschine und startete den Motor.
Alice stand hinter dem Fenster und sah Ben nach, wie er davon brauste.
„Sei vorsichtig“, wisperte sie und liess den Vorhang zurück vor die Scheibe fallen.
Ganz ausser Atem kam Ben im Dorf an. Fast so, als wäre er gerannt und nicht gefahren. Bevor er weiter den Einsatzkräften nachjagte, wollte er sich vergewissern, dass es ihn auch wirklich etwas anging.
Die Zeit drängte nicht direkt, denn den Krankenwagen hatte er nicht gesehen.
Kein Wunder, weil der auf der anderen Seite des Berges stand, am anderen Ende des Tunnels. Aber das konnte er nicht ahnen.
Ben stellte die Maschine ab und steuerte im Laufschritt auf den Ort zu, an dem er sich am schnellsten eine Antwort zu erhalten erhoffte.
Er öffnete die Tür zur Bar und blieb sofort stehen. Er versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was er sah. Es ergab aber keinen Sinn.
„Warum sind deine Schuhe und Beine rot bis zu den Knien?“ Dann dämmerte es ihm. Er kannte das Problem noch aus seiner Jugend.
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