Unscheinbar
„Nur zur Info, du musst nicht zu Fuss durch den Tunnel. Wir haben auch einen Zug.“
Emma wünschte sich, ihre Augen könnten Blitze abschiessen. „Lustig. Wirklich. Nur leider nicht ganz richtig.“
Als sie seinen verständnislosen Blick sah, entschied sie sich ihn aufzuklären. „Ich weiss, dass ihr einen Zug habt. Ich habe sogar darin gesessen. Für kurze Zeit. Nur fährt euer Zug derzeit genau nirgendwo mehr hin. Der steckt nämlich im Tunnel fest. Der einzige Grund, weshalb ich noch hier bin.“
Ben traf das schlechte Gewissen unvorbereitet. Er hatte nicht mehr an den Grund für die Begegnung mit seiner Mutter gedacht. Der Streit mit Emma. Er hatte sie weggeschickt. Und sie wäre auch gegangen.
Warum ihm der Gedanke, sie könnte weg sein, einen Stich versetzte, darüber konnte er jetzt nicht nachdenken.
„Ist deshalb die Kavallerie ausgerückt?“
Emma wackelte zustimmend mit dem Kopf.
„Dann hatte ich also Recht. Du löst die Katastrophen aus.“
Falscher Ansatz. Erst denken, dann sprechen. Er biss sich auf die Unterlippe.
„Würde ich Männer ohrfeigen, hättest du jetzt einen anständigen Abdruck im Gesicht.“
„Tut mir leid. Nicht nachgedacht.“ Ben warf einen Blick hinter die Bar.
Wo waren eigentlich alle? Da verlangte aber bereits Emma wieder nach seiner Aufmerksamkeit.
„Ach ja? Ist mir gar nicht aufgefallen. Was soll ich denn bitte tun? Ich hätte dir deine Theorie gerne bestätigt, damit ihr hier endlich wieder Ruhe habt, nur kam ich nicht sehr weit. Hierbleiben führt zur Katastrophe, aber weggehen kann ich auch nicht.“ Emma liess die Schultern hängen.
Er dachte nicht weiter darüber nach. Ben ging auf sie zu und zog sie in seine Arme. Sein Gesicht ruhte auf ihrem Kopf. „Was, wenn ich dir sage, dass ich gleich nach unserer Auseinandersetzung meiner Mutter wegen der Vatersache die Hölle heiss gemacht habe?“
Emma löste sich aus der Umarmung und wich einen Schritt zurück. „Was hat sie gesagt?“
„Leider nichts.“
„Trotz alledem?“ Sie machte eine ausladende Geste.
„Trotzdem“, bestätigte Ben.
Emma fuhr sich mit den Händen durch die Haare. „Gut. Okay. Vielleicht geht’s auch anders. Sagen wir, wir vergessen mal kurz die Frage nach dem eigentlichen Ziel dieser Attacken. Ich bin da im Zug auf etwas gekommen. Möglicherweise gibt es ein Muster.“
„Ja, das gibt es vielleicht wirklich.“ Ben dachte daran, dass sich die Geschichte wahrscheinlich gerade wiederholte.
Emma überhörte seinen Kommentar. „Und wenn wir dieses Muster durchschauen, finden wir vielleicht auf diesem Weg heraus, wer hinter alledem steckt. Warte.“ Sie musterte Ben. „Hast du gerade zugestimmt?“
Da war es wieder. Endlich. Emma wurde klar, dass sie dieses Lächeln schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Und es hatte ihr sogar gefehlt, wie sie feststellte.
„Ja und nein. Zugegeben, ich habe vorgegriffen. Aber tatsächlich muss ich dir beipflichten, dass die Erkennung eines Musters möglicherweise hilft.“
„Ach wirklich. Und welches Muster willst du erkannt haben?“, wollte Emma wissen, bevor sie ihre Version zum Besten gab.
Jetzt wurde er wieder ernst. „Die Geschichte wiederholt sich. Und das Ende kennst du ja. Wenn wir also nicht bald herausfinden, wer dahintersteckt, wird jemand sterben.“
„Die Geschichte wiederholt sich.“ Emma verliess der Mut. Natürlich war ihr klar gewesen, worauf das ganze Schmierentheater hinauslief. Hinauslaufen musste. Aber die Worte zu hören gab der Situation eine ganz andere Intensität.
„Emma?“ Bens Tonfall liess sie aufhorchen.
Bildete sie sich das nur ein oder war er besorgt?
„Alles gut. Es ist nur“, sie seufzte, „ich bin nicht Sherlock Holmes. Mord und Totschlag, heimtückische Pläne und schreckliche Geheimnisse sind nicht gerade mein täglich Brot. Ich bin ein normaler Mensch mit einem stinknormalen Beruf. Verstehst du?“
„Interessanter Vergleich. Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass Sir Arthur Conan Doyle seinen Sherlock Holmes unweit von hier hat sterben lassen?“
„Nicht direkt, nein.“
„Schade. Aber ich denke, ich verstehe. Ich restauriere Oldtimer, da ist Mord auch eher selten. Aber irgendetwas wurde durch uns ausgelöst. Wenn das Geheimnis um den Fluch nicht endlich gelöst wird, hört es nie auf. Und wenn nicht wir es lösen, wer dann? Wie du richtig festgestellt hast, alle anderen verschliessen die Augen und warten, bis es wieder vorbei ist. Aufgeben kommt auch nicht in Frage, denke
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