Unscheinbar
starrte ins Leere. „Die Geschichte wiederholt sich“, flüsterte er. „Emma krachte sogar an derselben Stelle in den Fels, an der auch schon Bernard und Käthe verunfallten! Wie konnte ich nur so blind sein!“ Er konnte es kaum fassen. Warum hatte er das nicht schon früher begriffen?
Alice horchte auf. Aber sie schwieg.
Auf einmal war Ben ganz aufgeregt. Er schaute zu seiner Mutter. „Feuer, Autounfall, Felslawine. Kommt dir das nicht irgendwie bekannt vor?“
Er konnte nicht glauben, dass sie weiterhin nichts sagte.
Sie musste es doch begreifen.
„Was fehlt? Stromschlag, Erhängen, Erschlagen, Absturz. Was noch?“ Ben stützte sich auf den Wannenrand ab. „Mama, noch ist es nicht vorbei. Irgend so ein Mistkerl treibt hier sein krankes Spiel. Aber wir können es beenden. Wir können eure sogenannten Zufälle stoppen. Dazu müssen wir aber herausfinden, wer dahinter steckt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dein gut behütetes Wissen hilft weiter.“
Alice sah ihren Sohn lange an. Dann flüsterte sie kaum hörbar: „Es wird dir nicht helfen. Lass es gut sein. Ich hüte das alles schon so lange, dass es mit mir verwachsen ist. Wenn ich es teile, reisse ich ein Stück von mir selbst heraus. An dieser Stelle bleibt ein Loch, das sich nicht mehr füllen lässt.“
Ben glaubte, nicht richtig zu hören. „Egoismus? Egoismus ist dein Antrieb, dein Wissen nicht preis zu geben?“
„Nein, Ben. Nicht nur. Glaube mir, es wird dir nichts nützen, das zu wissen. Es gibt dir keinen Hinweis auf den Urheber des Fluches.“
„Aber vielleicht auf den Grund. Möglicherweise könnte man dort ansetzen.“ Hoffnungsvoll sah Ben Alice an.
Entschuldigend blickte sie zurück. „Ich kann nicht.“
Abrupt stand er auf und ging hinaus. Ohne ein weiteres Wort liess er Alice zurück, der die Tränen in die Augen stiegen. Stumm starrte sie an die Badezimmerdecke. Aber sie sah sie nicht. Sie sah weit darüber hinaus.
In Gedanken führte sie ein Zwiegespräch mit ihrer längst vergangenen Liebe. Martin Reich.
„Ertrinken“, murmelte sie. Sie sagte es noch einmal. Diesmal lauter.
Eine gefühlte Ewigkeit rührte sich nichts. Sie glaubte schon, er habe es nicht mehr gehört.
Doch dann wurde die noch halb geöffnete Tür des Badezimmers ganz aufgeschoben.
„Was hast du gesagt?“ Ben blieb in der Tür stehen.
Alice löste den Blick von der Zimmerdecke und schaute zu ihrem Sohn auf. „Stromschlag, Erhängen, Absturz und Ertrinken.“
Strang 2 / Kapitel 19
„Verschwinde. Raus aus diesem Haus. Sofort!“ Wie eine Furie rauschte Eliane durch den grosszügigen Salon, ihre Tochter vor sich her treibend.
Sandrine beschloss, ihr die Stirn zu bieten. Sie blieb stehen und drehte sich um. Eliane konnte den drohenden Zusammenstoss gerade noch vermeiden. „Du wagst es…“
„Ja. Ich wage es.“ Sandrine richtete sich zu ihrer vollen Grösse auf. Sie straffte die hängenden Schultern und blickte ihrer Mutter fest in die Augen. „Ich trage nicht die volle Schuld daran. Ihr, Papa und du, seid ebenso schuldig wie ich.“
„Wie kannst du es wagen!“ Elianes Stimme überschlug sich. „Du undankbares Miststück!“
Sandrine schnürte es fast die Kehle zu, doch sie gab sich unbeeindruckt. „Willst du mir widersprechen, Mutter? Ist das dein Ernst? Wann wart ihr beide denn für mich da? Hm? Schon mein ganzes Leben lang wurde ich abgeschoben. Nein Sandrine, auf die Reise kannst du nicht mit. Das ist nichts für Kinder. Nein, Sandrine, das Hausmädchen passt auf dich auf. Wir müssen an einen Ball. Nein, Sandrine, ich begleite dich nicht zur Schule, das gehört sich nicht für grosse Mädchen. Nein, Sandrine, wir werden dich nicht ins Bett bringen, wir werden dann nämlich noch gar nicht zuhause sein. Nein, Sandrine, das Christkind hat in diesem Jahr nichts für dich. Du musst lernen, dass man nicht immer bekommt, was man will. Nein, Sandrine, du darfst nicht zu den anderen Kindern auf den Spielplatz, du könntest dir dein Kleid ruinieren. Spiel nicht im Garten, Sandrine, du machst dich schmutzig. Lass die Puppen, du hast Klavierunterricht. Eine öffentliche Schule kommt nicht in Frage, du gehst ins Internat. Lerne Bescheidenheit, Sandrine. Lerne Demut. Dann finde ich dir einen Ehemann, der in der Gesellschaft bereits einen festen Platz hat.“ Sandrine redete sich in Rage. All die angestaute Wut brach aus ihr heraus. „Kommt dir das bekannt vor, Mutter?“
Elianes Gesicht war purpurrot angelaufen. Sie sah aus,
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