Unscheinbar
Und zwar lautstark.
Emma spazierte weiter. In Gedanken versunken. Arglos.
Plötzlich blinkte am Berg, zwischen den zerklüfteten Felsen, ein Licht auf.
Sie hatte es kaum wahrgenommen, da war es auch schon wieder erloschen.
Instinktiv wandte sie den Kopf dorthin, wo sie das Aufblitzen vermutete. Aber es blieb dunkel. Sie kniff die Augen zusammen, konnte allerdings nichts erkennen. Noch einige Sekunden blieb Emma still stehen. Nichts mehr rührte sich.
Ihr war nicht ganz wohl bei der Sache. Sie sah sich um, aber da war kein Auto weit und breit. Alice war noch nicht in Sicht.
Emma blieb nichts anderes übrig, als sich zusammenzureissen und weiter zu gehen.
Doch gerade, als sie sich wieder in Bewegung setzte, hallte ein gellender Schrei von den Bergen wider.
Emma gefror das Blut in den Adern.
Der Schrei kam aus der Richtung, aus der zuvor das Licht aufgeleuchtet war.
Das Herz pumpte Adrenalin durch ihre Blutbahnen.
Was tun?
Wegrennen?
Und wenn jemand Hilfe brauchte?
Bereit zur Flucht lauschte Emma in die zurückgekehrte Stille.
Nichts.
Oder doch?
War das ein Wimmern? Ein Stöhnen?
War es überhaupt möglich, dass sie etwas hörte? Dass die Berge Wehklagen so zurückwarfen, dass sie bis an ihr Ohr drangen? Oder hörte sie nur das Rauschen der Wasserfälle? Bildete sie sich alles ein? War es der Wind, der ihren Ohren einen Streich spielte?
Angestrengt horchte Emma weiter. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich.
Da. Da war es wieder. Neben den anderen Geräuschen kaum hörbar. Aber es war da.
Nein. Das war nicht der Wind, kein Streich ihres Gehirns. Das war ein Mensch.
Wie immer griff Emma als erstes zu ihrem Telefon. Aber erneut war von diesem Gerät nichts zu wollen. Funkloch. Auf der Suche nach Empfang ging Emma die Strasse auf und ab, verliess sie und kehrte zurück. Aber Empfang bekam sie keinen.
Erneut hielt sie Ausschau nach Alice. Wenn doch wenigstens sie zu Hilfe käme…
Aber nichts wies auf ein baldiges Eintreffen hin.
Wo blieb sie nur so lange?
Sie würde wissen, was zu tun war.
Die vorangekündigten zwanzig Minuten waren sicher bald vorbei.
Emma überlegte hin und her. Sollte sie hier auf Alice warten? Sollte sie etwas hinterlassen, zum Zeichen, dass sie hier gewesen war und sich auf den Weg machen, um zu sehen, ob sie helfen konnte?
Das wäre unklug. Dessen war sich Emma bewusst.
Sie entschied, ihren Weg fortzusetzen, solange, bis Alice kam, die sie mit ihrem Auto schnell wieder an den Ort des Geschehens zurückfahren könnte oder aber bis sie Handyempfang hatte, um Hilfe zu ordern.
Sie wusste, dass sie bald Empfang bekommen müsste, hatte sie doch auf Alices Grundstück welchen gehabt. Die Frage war nur, wann sie in Reichweite der Antenne kam.
Das galt es nun herauszufinden.
Dieser Entscheid erschien Emma vernünftig, weshalb sie sich ein wenig beruhigte.
Und genau in diesem Augenblick kam der Hilferuf.
Emma fuhr erschrocken zusammen. Die Stimme klang so wehleidend, so schmerzerfüllt.
Und das schlimmste war: Sie klang irgendwie seltsam vertraut.
Die Vernunft flog kurzerhand über Bord.
Genügend Geistesgegenwart, um ihren leichten Schal an den nächsten Baum zu knüpfen bewies sie aber noch.
Dann rannte Emma los.
Sie erreichte das Becken des Wasserfalls. Dort sah sie sich um. Aber es war niemand zu sehen.
Da vernahm sie den Hilferuf erneut.
Emma schwante Schlimmes. Dennoch sah sie sich noch einmal um, in der Hoffnung sich zu irren. Aber sie irrte nicht. Schliesslich gab sie nach. Sie richtete den Blick in die Höhe.
Erneut ein Rufen. Es wurde bereits schwächer.
Jetzt war es eindeutig. Die Stimme kam nicht aus der umliegenden Nähe. Sie kam von Oben.
Das Opfer schien nicht weit oberhalb von Emmas Standort aufgekommen zu sein.
Emma betrachtete die Felsen, das Gelände. Und fasste einen Entschluss.
Mit etwas Abstand zum Wasserfall nahm sie einen Fuss vor den anderen setzend die Steigung in Angriff.
Das Terrain stellte keine übermässige Herausforderung dar. Zumindest waren keine Kletterutensilien nötig. Der Untergrund war uneben und felsig, teilweise aber auch von Erde überdeckt. Gestein ragte mancherorts weit aus dem Boden heraus.
Erst viel weiter oben präsentierte sich der Fels in seiner Urform. Rau und erbarmungslos.
Dennoch, die Hürden, mit denen Emma konfrontiert wurde, wollten erst einmal genommen sein.
Trotz der Widrigkeiten bewegte sie sich rasch und sicher vorwärts. Fast so, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
Je weiter sie
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