Unscheinbar
kletterte, desto unwegsamer wurde das Gelände.
Die Anstrengung trieb ihr den Schweiss ins Gesicht.
Allmählich musste sie die Hände zu Hilfe nehmen, um weiterzukommen.
An ihren Fingern klebte Erde und Staub. Ihre Schuhe waren schmutzverkrustet.
Immer wieder hielt sie inne und lauschte. Zunehmendes Rauschen verschluckte die menschlichen Geräusche grösstenteils. Die Umgebung wurde feuchter, an einigen Stellen war sie nass. Pfützen, teilweise beinahe kleine Seen traten vermehrt auf und erschwerten das Fortkommen. Das Rauschen nahm zu. Sie war dem Wasserfall doch näher gekommen, als sie geglaubt hatte.
Die anfänglich regelmässigen Hilferufe wurden allmählich seltener und auch leiser. An deren Stelle traten Leuchtzeichen. Das Licht erhellte in regelmässigen Abständen die Dämmerung.
Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Der Morsecode für SOS.
Das Gestein nahm Emma meist die Sicht auf das Lichtsignal. Sie bewegte sich trotzdem weiter in die ungefähre Richtung.
Feine Wassertröpfchen benetzten ihr Haar, das nun in Strähnen an ihrem Gesicht klebte.
Emma nahm sich Zeit, sich umzusehen. Sie war jetzt direkt neben dem Wasser.
Sie sah die herabstürzenden Massen.
Irgendwie hatte das von der Strasse aus harmloser ausgesehen.
Aber ein Zurück gab es nun nicht mehr.
Denn etwas weiter oberhalb sah sie das Licht wieder aufleuchten. Es brach sich an den Wassermassen.
Wie weit war die Person von dieser unheimlichen Naturgewalt weg?
Egal. Das Licht blinkte immer noch auf. Der Mensch war wohl noch bei Bewusstsein.
Es war nicht mehr weit. Nur noch ein bisschen weiter in die Höhe.
Dadurch ermutigt griff Emma nach dem nächsten Stein. Und rutschte ab.
Beinahe wäre sie gestürzt. Hätte sie nicht instinktiv das Gleichgewicht mit einem grossen Schritt ausgeglichen, würde sie nun im Dreck liegen. Oder im Wasser.
Kein Wunder, war der Verunfallte abgestürzt, schoss es Emma durch den Kopf.
Sie versuchte es noch einmal. Diesmal bekam sie den Vorsprung richtig zu fassen. Sie schob sich an einer herausragenden Ecke vorbei und landete in einer Sackgasse.
Entweder zurück oder hinauf. Ein mannshoher Fels versperrte ihr den Weg. Am Fuss des Felsens entdeckte sie eine Ansammlung von grösseren Gesteinsbrocken. Wenn sie auf diese Steine kletterte, wäre sie womöglich hoch genug, um den Fels überwinden zu können.
Hinauf, also.
Sie stellte sich auf die Steine. Damit erreichte sie tatsächlich eine akzeptable Höhe. Als würde sie sich im Schwimmbad aus dem Becken hieven, legte sie die Hände auf den Rand des Felsens, stiess sich mit den Füssen ab und stützte sich mit beiden Armen auf den Fels. Sie zog die Beine nach und kam schliesslich oben an.
Was dann geschah, hatte sie nicht erwartet.
Sie stand beinahe hinter dem Wasserfall. Das Wasser wurde auf seinem Weg in die Tiefe durch einen Felsvorsprung nach vorne abgelenkt. Dahinter verbarg sich eine Art Nische, die beinahe vollständig vom Wasser umschlossen wurde. Um dorthin zu gelangen, müsste Emma einen dünnen Wasserstrahl durchqueren.
Hoch war die Nische nicht. Sie wirkte zudem ziemlich schmal. Es sah fast so aus, als sei an dieser Stelle vor geraumer Zeit Gestein herausgebrochen und hätte dieses Loch hinterlassen, über das der Wasserfall nun hinwegrauschte.
Faszinierend.
Aber Emma war nicht hier, um die Natur zu bewundern.
Konzentriert betrachtete sie die Umgebung aus den Augen eines Helfers.
Sie sah hinauf. Da war nichts als eine steile Wand. Wenn sie sich nur vorstellte, dass jemand hier hinein gestürzt war, graute ihr.
Es grenzte an ein Wunder, dass dieser Jemand noch atmen, rufen und Lichtzeichen geben konnte.
Aber wo war dieser Jemand jetzt? War er überhaupt hier?
Da fiel Emma etwas auf. Sie hatte es bisher nicht wahrgenommen, weil sie auf ihrem Weg sowieso schon nass geworden war. Kontinuierlich wurde sie vom Spritzwasser des Sturzbaches benetzt. In erstaunlichem Tempo war sie durchnässt. Aber was noch schlimmer war: Das Schmelzwasser war eiskalt.
Was hätte sie getan, wenn sie nach einem heftigen Sturz hier gelandet wäre?
Sie hätte versucht auf sich aufmerksam zu machen, dann hätte sie sich an einen trockeneren Ort verkrochen, wenn sie dazu noch in der Lage gewesen wäre.
Genau.
Emma suchte hastig die Nische ab. Das Wasser floss schimmernd darüber und verzerrte die Sicht. Auf die Schnelle konnte sie niemanden entdecken.
Augenblick.
War da nicht etwas? Unter dem Felsvorsprung gegenüber?
Tatsächlich.
Wie aus dem Nichts
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