Unscheinbar
marschierte zielstrebig auf Liss‘ Haus zu.
Indes tat sich am anderen Ende von Emmas Leitung auch etwas.
„Hallo?“
„Alice?“
„Ja. Wer spricht da?“
„Ich bin es, Emma.“
„Emma? Woher hast du…“ Alice brach ab. „Ben, richtig?“
„So ist es.“
Emma riskierte noch einmal einen Blick zurück zu Ben. Als sie sah, wie die Tür des Chalets geöffnet wurde, hüpfte sie hinter die Polizeistation und brachte sich in Deckung. Aber sie spähte hinter der Mauer hervor, um zu beobachten, wie Ben sich anstellte.
„Wie hast du das geschafft? Hast du ihn niedergeschlagen? Falls ja, sei so gut und sag mir, wo er liegt.“
Emma grinste in ihr Telefon. „Keine Sorge, ich habe keine Gewalt angewendet.“ Emma erinnerte sich daran, dass sie ihm sein Telefon einfach aus der Hosentasche gezogen hatte. Ihr wurde leicht verspätet bewusst, dass das eine sehr empfindliche Stelle für eine weibliche Berührung sein konnte. Hoppla.
„Emma, bist du noch dran?“
Emma räusperte sich. „Ja. Ich bin noch da. Dein Sohn hat mir deine Nummer ganz freiwillig übergeben. Ich kann manchmal ziemlich überzeugend sein.“
„Soso“, gab Alice verschmitzt zur Antwort. „Und weshalb rufst du an?“
Okay. Der Moment der Wahrheit. „Es ist derzeit alles etwas kompliziert und ich weiss, dass du unter Druck stehst und nicht besonders gut auf uns und das allgegenwärtige Thema zu sprechen bist. Aber…“
„Wenn du mich jetzt fragen willst, wer Bens Vater ist, dann vergiss es“, kam es prompt vom anderen Ende.
„Nein! Das will ich gar nicht. Nicht jetzt. Es ist viel einfacher.“
In der Leitung blieb es still.
„Ben hat gesagt, du hättest Bücher über Schweizer Sagen zuhause. Ich wollte fragen, ob ich mir die ansehen darf. Das Problem ist eben, ich kann mich an niemand anderen wenden. Keiner sonst würde uns helfen. Du bist diejenige, die uns noch am ehesten unter die Arme greift.“
„Uns? Er steckt da also mit drin? Warum hat er mich dann nicht selbst gefragt?“
„Weil er eine anderen Auftrag gefasst hat. Ich erklär dir gerne alles. Persönlich.“
Persönlich? Kluges Mädchen. Alice liess sich die Bitte noch einmal durch den Kopf gehen. „Ihr habt Recht. Von den anderen könnt ihr keine Hilfe erwarten. Gut. Ich bin aber derzeit noch unterwegs. Soll ich dich irgendwo aufgabeln?“
„Das wäre toll. Ich bin bei der Polizeistation. Was denkst, du wie lange du brauchst?“
„Sicher zwanzig Minuten.“
„Gut.“
In die Szene auf der gegenüberliegenden Strassenseite kam Bewegung. Emma beobachtete, wie Liss Ben schmachtend anlächelte und zur Seite trat. Hexe.
Er ging ins Haus.
Ben war drin. Wunderbar.
„Weisst du was?“, setzte Emma das Gespräch fort, „anstatt hier zu warten, spazier‘ ich schon einmal los. Pickst du mich unterwegs auf?“
„Klar. Mach ich. Bis später!“ Alice legte auf.
Emma steckte ihr Telefon weg. Sie schaute noch einmal zu der Tür, hinter der Ben verschwunden war.
Was hatte er ihr bloss erzählt?
Egal.
Sie schlüpfte aus ihrem Versteck und schlich sich zwischen den Häusern hindurch in Richtung der Strasse, die zu Alices Haus führte. Erst, als sie wusste, dass Liss sie nicht mehr entdecken konnte, verliess Emma die Schleichwege.
Strang 1 / Kapitel 26
Die Schatten hatten das Tal schon längst eingeholt. Jetzt wurden sie länger und immer dunkler. Die Nacht rückte näher.
Dass es schon so spät geworden war, war Emma entgangen.
Wann genau hatte die Zeit beschlossen davonzurasen?
Emma schlenderte die Strasse entlang. Sie hatte die letzten Häuser hinter sich gelassen und marschierte durch die menschenleere Natur. Zum ersten Mal bekam sie einen Eindruck von dieser Landschaft. Bisher hatte sie keine Zeit dazu gehabt, ihre Schönheit zu bemerken. Geschweige denn, sie zu bewundern. Die Natur, die langsam wieder zum Leben erwachte, die ersten blühenden Blumen, die Wasserfälle, die sich vielerorts von den Felsen stürzten.
Wasser von der Schneeschmelze, wie Emma vermutete.
Das Rauschen des Wassers zusammen mit dem Säuseln des Windes ergab ein leises, beruhigend regelmässiges Klangbild. Idylle pur.
Einzig der Gedanke, dass die Dunkelheit sie einzuholen drohte, während sie hier alleine unterwegs war, war ihr nicht ganz geheuer. Aber Alice würde ja bald kommen.
Ob sie bei ihr wohl etwas zu Essen schnorren durfte?
Dummer Gedanke. Aber sie hatte, seit sie hier war, kaum gegessen. Gegen diesen Entzug protestierte je länger je mehr ihr Magen.
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