Unscheinbar
entzündete sich Licht und erlosch wieder. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Mehrere Male hintereinander. Dann setzte eine längere Pause ein.
Zum Zeitpunkt einer solchen Pause musste sie hier angekommen sein und hatte daher das Licht nicht früher gesehen.
Dass das Licht nur noch die Decke anleuchtete und auf diese Weise nichts nützte, war jetzt unwichtig. Sie musste sich bemerkbar machen. Der Verletzte durfte sich nicht erschrecken, wenn sie auf einmal auftauchte und doch musste er wissen, dass er gehört worden war.
„Ganz ruhig. Nicht bewegen. Ich komme. Ich bin hier. Alles wird gut.“ Skeptisch betrachtete Emma den wässrigen Vorhang, der ihr den Weg zum Opfer versperrte.
Augen zu und durch, dachte sie sich und tat den ersten Schritt.
Die Kälte traf sie so unvermittelt, dass es ihr den Atem verschlug. Geräuschvoll japste sie nach Luft.
Kalt. Kalt. Kalt.
Sie versuchte sich zu sammeln und liess die Umgebung erneut auf sich wirken. Sie stand in der Nische. Den Kopf musste sie jetzt schon einziehen. Es war dunkel. Licht. Sie brauchte Licht. Ihr Telefon.
Mist.
Sie war patschnass. Und ihr Telefon?
Da blinkte es wieder. Die felsige Decke, unter der das Licht hervorschimmerte, hing tief. Sehr tief. Ein klaustrophobisches Gefühl beschlich Emma. Sie ignorierte es.
Ihr Telefon war vergessen.
Sie brauchte es auch nicht mehr. Die regelmässig aufleuchtende Lampe reichte als Lichtquelle aus. Emma duckte sich. In gebeugte Haltung spähte sie in den Spalt.
Da erkannte sie menschliche Umrisse.
Von Aufregung erfasst, trat Emma noch etwas näher.
Der Kopf lag ihr zugewandt auf dem kalten Stein. Das Leuchtzeichen stammte von einer Stirnlampe. Das Licht war hell und warf Schatten. Mit jedem Aufleuchten wurde Emma geblendet. Erlosch das Licht, war es zu dunkel. Aber das Licht erlosch nicht einfach. Es glomm langsam ab, bevor es das nächste Mal aufleuchtete. Das war genug Zeit, um mit jedem Funken ein weiteres Stück von der Situation zu erfassen. Und mit jedem Puzzleteil wuchs der Schock.
Entsetzt schnappte Emma nach Luft.
Ein Arm wirkte seltsam verdreht, ein zweiter liess sich nicht ausmachen. Die Beine sah sie nur zur Hälfte. Der Rest schien vom Fels begraben und zerquetscht.
Der Oberkörper wirkte schmal und irgendwie unförmig. Ein Hauch von nassem Stoff umhüllte den Leib, aber es schien kaum angemessene Kleidung für eine Kletterpartie in dieser Jahreszeit zu sein.
Was war hier geschehen?
Emma hatte immer noch Mühe, die Verletzungen genau zu erkennen. Dafür entdeckte sie etwas anderes.
Sass da neben dem Kopf etwa eine kleine Puppe?
Emma glaubte ihren Augen nicht trauen zu können, und gleich würde das Licht erneut für eine Weile aus bleiben.
Eins.
Tatsächlich. Eine Stoffpuppe. Mit schwarzen Knopfaugen. Sie lehnte an diesem zerschudenen Gesicht. Dieses Gesicht...
Zwei.
Oh, mein Gott. Dieses Gesicht! Zerschmettert, angeschwollen, blutverkrustet, entstellt. Aber irgendwie bekannt, oder?
Drei.
Das Licht erlosch vollständig.
Emma wappnete sich gegen das Schlimmste.
Da vernahm sie ein leises Wimmern. Sie traute ihren Ohren nicht. Das klang wie… Wie ihr Name!
Sie kniff die Augen zusammen, überbrückte die letzte Distanz. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit.
Sie konzentrierte sich auf die Augen des Opfers. Braun. Hübsch, mit schön gezeichneten Brauen.
Emma dämmerte, weshalb sie geglaubt hatte, die Stimme und das Gesicht zu kennen.
Ihr wurde speiübel.
Joschua?
Doch da war es zu spät.
Noch ein Schritt mehr. Ein Schritt zu viel.
Sie rutschte aus.
War das Eis?
Das war der letzte Gedanke.
Alles ging ganz schnell.
Sie verlor den Boden unter den Füssen.
Die Wassermassen erwischten Emma mit voller Wucht. Die enorme Kraft traf sie völlig unvorbereitet.
Sie stürzte mit den Fluten in die Tiefe. Das kleine Becken, das der Wasserfall geschaffen hatte, war gut gefüllt.
Zum Glück.
Sie tauchte unter die eisige Oberfläche und wurde von den nachfolgenden Massen begraben. Sie verlor die Orientierung.
Unter Wasser hatten sich Stellen mit gefährlicher Sogkraft gebildet.
Verzweifelt versuchte Emma gegen das Wasser anzukommen. Aber sie wurde verwirbelt wie ein Stück Treibholz.
Die Luft wurde knapp.
Die Zeit rannte ihr davon. Wo war oben, wo unten? Wie wild ruderte sie mit den Armen. Suchte Halt. Wehrte sich mit aller Macht gegen den Druck und den Sog.
Sie spürte, wie sie gegen Steine unter dem Wasser prallte.
Der Kampf schien schon fast verloren. Da durchbrach
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