Unscheinbar
Hand, „du holst mir bitte Wasser und Tücher. Ich werde die Medikamente holen. Und du“, fuhr sie an Gregor gewandt fort, „bewegst dich nicht. Verstanden?“
Martin und Ruth verliessen das Zimmer gemeinsam. Ruth wollte bereits den Gang hinauf davon gehen, als Martin sie zurück hielt.
„Mama“, er sah sie ernst an, „was ist mit ihm?“
Ruths strenger, konzentrierter Blick wurde mit einem Mal weich. Als Martin die Tränen in ihren Augen glitzern sah, schnürte ihm die schlimmste Befürchtung die Kehle zu.
„Er wird doch nicht…“
„Oh, nein.“ Ruth wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. „Ich heule nur, weil die Anspannung sich verflüchtigt. Nein. Er wird wieder. Er hatte grosses Glück. Ein paar Prellungen und eine Gehirnerschütterung. Nicht einmal einen Bruch hat er sich geholt.“
„Ach nein? Wenigstens das hätte er sich verdient, nachdem er zweimal auf den Heuboden geklettert ist.“
Ruth legte die Stirn in Falten. Der Heuboden. Zweimal?
„Was ist eigentlich passiert? Was hat er da oben gewollt?“
„Ich habe absolut keine Ahnung.“ Martin zuckte mit den Schultern.
„Das wird er uns noch erklären müssen.“ Ruth wandte sich erneut zum Gehen. Doch dann drehte sie sich noch einmal um. „Dein Vater und ich haben heute Abend noch etwas mit euch zu bereden. Sag es bitte Antonius, wenn du ihn siehst, ja?“
Martin konnte den seltsamen Gesichtsausdruck seiner Mutter nicht enträtseln. Daher nickte er nur kurz und ging dann ebenfalls seines Weges.
Am Abend, nachdem Gregor eingeschlafen war, versammelten sich Ruth, Erwin, Antonius und Martin um den Holztisch in der Küche.
„Aaaalso, waas ist los?“ Antonius lächelte aufmunternd in die Runde.
Ruth war allerdings nicht zum Lächeln zumute. Sie legte schützend die Hand über diejenige von Antonius, ehe sie das Wort ergriff. „Wir machen uns grosse Sorgen um Gregor.“
Hilfesuchend sah sie zu Erwin. Doch Erwin schwieg. Und hypnotisierte den Tisch.
Ruth ahnte, dass sie von ihm nichts erwarten konnte. Also fuhr sie fort. „Seit Sandrines“, sie zögerte, „nun, seit ihrem Weggang ist er vollkommen durch den Wind.“
„Das sind wir alle“, sagte Martin.
Antonius pflichtete Martin bei.
„Ja, sicher. Aber er hat seither den Alkohol nicht mehr beiseite gelegt.“
Also doch betrunken. Martin hatte es nicht wahrhaben wollen.
„Mutter. Es ist kaum zwei Tage her, seit Sandrine uns verlassen hat“, gab Martin zu bedenken.
„Du hast ja Recht. Ich will auch nicht sagen, dass er endgültig verloren ist. Ich möchte nur, dass wir alle ein Auge auf ihn haben. Aus naheliegenden Gründen verkraftet er die jüngsten Ereignisse viel schlechter als wir. Ich mache mir Sorgen, dass er etwas Dummes tut.“
„Wie auf den Heuboden zu klettern?“ Martin sah seiner Mutter direkt in die Augen. Und sie verstand.
„Oder herunterzuspringen.“ Ihre Antwort klang nüchtern. Eine simple Feststellung. Sie war offenbar schon viel früher auf den Gedanken gekommen, denn sie wirkte nicht im Mindesten überrascht.
„Ich wollte nur wissen, ob ich noch am Leben bin. Spüren, ob ich noch etwas empfinden kann.“ Wankend stand Gregor im Eingang zur Küche. Er war so schwach, dass seine Beine wegzukippen drohten. Schwer stützte er sich am Türrahmen ab.
Alle sahen gleichzeitig auf.
„Überraschung!“, lallte Gregor.
Ruth brach der Anblick das Herz. Erwin fuhr mit der Hypnose des Tisches fort. Seine Art, mit dem Problem umzugehen.
Antonius lächelte unsicher und verlegen.
Nur Martin reagierte. Er schob den Stuhl geräuschvoll zurück, stand auf und ging zu Gregor.
„Wehe, deine schwere Zunge kommt nicht von den Medikamenten und deinem angeknacksten Gehirn“, flüsterte er ihm zu. Dann griff er ihm unter die Arme. Er lud sich das ganze Körpergewicht seines Bruders auf die Schultern und führte ihn zurück ins Schlafzimmer.
„Schlaf jetzt. Und ich flehe dich an, komm zurück zu uns. Ich weiss nicht, was ich ohne dich tun soll. Du bist schliesslich nicht nur mein Bruder, sondern auch mein bester Freund. Wir brauchen dich hier. Wir alle.“
Gregors Augenlieder wurden schwer. Sie flatterten leicht. Dann dämmerte er weg.
Martin wusste nicht, ob Gregor alles gehört hatte. Aber er war sich sicher, dass er verstanden hatte.
Es musste einfach so sein.
Strang 2 / Kapitel 21
„Gregor? Gregor? Der See, weisst du noch? Wer zuerst dort ist!“ Engelsgleich lockte die sanfte Stimme.
„Sandrine? Bist du’s? Sandrine!
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