Unscheinbar
sich wieder aus, wusch sich gründlich und stieg dann erneut in ihre Kleidung. Dann legte sie den nassen Lappen über den Brunnenrand und wandte sich der Küche zu. Sie hatte ihre Hand auf die Türfalle gelegt, bereit, sie hinunterzudrücken. Da sah sie den weissen Zettel an der Tür. Er war mit einem rostigen Nagel in das dunkle Holz geschlagen worden. Während sie die Nachricht las, gefror ihr das Blut in den Adern. Von Entsetzen gepackt riss sie die Notiz von der Tür und rannte in den Stall.
„Erwin! Erwin!“ Ihre Rufe hallten durch das Gebälk, aber Antwort erhielt sie keine. Erwin war mit den Kühen bereits durch. Hektisch überquerte sie den Platz und hetzte ins Gebäude, in dem die Landmaschinen und allerlei anderes Werkzeug untergebracht waren. Erneut rief sie nach ihrem Mann.
„Himmel, Ruth! Den Kühen wird noch die Milch sauer, wenn du weiter so brüllst! Was ist denn in dich gefahren?“ Brummelnd schob sich Erwin zwischen einer Mähmaschine und der Wand hervor. Ihm war es zuwider wenn es frühmorgens Ärger gab, und die Stimmlage seiner Frau klang nach Ärger. Aber als er ihr Gesicht sah, verstummte er. Ruth wurde selten blass. Immer war sie Herr der Lage. Doch jetzt war sie kalkweiss.
Noch bevor er sich um ihr Wohlbefinden bemühen konnte, hob sie den Zettel vor sein Gesicht.
„Was ist das?“ fragte er und trat näher.
„Miriam. Sie war heute Nach hier.“
Erwin verstand kein Wort. Er entriss Ruth das Papier und begann zu lesen. Nach dem letzten Wort liess er ungläubig die Hände sinken.
„Du denkst doch nicht etwa…?“
Ernst sah Ruth ihn an. „Doch. Miriam ist bei Nacht und Nebel in die Alphütte aufgebrochen.“
„Was hat sie sich nur dabei gedacht? Der Weg ist bei Tag schon anspruchsvoll, bei Nacht grenzt der Aufstieg an Selbstmord!“ Erwin konnte es nicht fassen.
Ruth ging es genauso. „Wir müssen sie sofort suchen.“
“Ich packe das Nötigste zusammen, du holst Gregor und Martin.“
Erwin wollte sich schon an Ruth vorbeidrängen, als sie ihn am Arm zurückhielt. „Aber du bleibst hier, nicht wahr?“
Zu lange zögerte Erwin mit der Antwort.
„Nein. Nein! Du bleibst hier. Wie du selbst gesagt hast, der Aufstieg ist anspruchsvoll. Der Berg verzeiht keinen Fehltritt. Dafür ist dein Bein einfach noch zu schwach.“ Eindringlich sah Ruth ihrem Mann in die Augen. „Der Fels hat dein Bein zertrümmert, dass du überhaupt noch Gehen kannst, grenzt an ein Wunder. Ich weiss, es passt dir nicht, aber du weisst, dass ich Recht habe.“
Er sagte kein Wort. Er riss sich los und verliess humpelnd die Scheune.
Verdammter Steinschlag.
Eine halbe Stunde später brachen die beiden Brüder Gregor und Martin zur Alphütte auf.
Antonius blieb zurück. Wie immer. Er sah seinen Brüdern lediglich unbekümmert nach. Einmal mehr erweckte er das Gefühl den Ernst der Lage nicht ganz verstanden zu haben. Ruth legte den Arm um ihren mittleren Sohn und sah bangend den Berg hinauf. Es hatte doch tatsächlich in dieser Nacht das erste Mal geschneit. Der Hang ruhte friedlich unter einer feinen weissen Schicht, die einem Zuckerguss glich. Nur vereinzelte graue Stellen mahnten an die Unberechenbarkeit der Natur.
Martin und Gregor waren gut in Form. Sie waren erfahrene Bergsteiger und Wanderer. Abgesehen davon, kannten sie die Tücken dieses Aufstieges. Daher kamen sie zügig voran.
Von ihrem Hof aus gesehen gab es nur eine Route zu der Hütte. Unter der Voraussetzung, dass Miriam des Nachts nicht vollkommen vom Weg abgekommen war, grenzte dieser Umstand das Suchgebiet bedeutend ein. Dennoch trennten sich die Männer immer wieder. Einer blieb auf dem Weg, der andere führte seine Suche abseits fort. So wechselten sie sich ab, bis sie an die engste und daher auch gefährlichste Stelle der Strecke kamen. Links fiel das Gelände steil ab und mündete in eine Schlucht aus reinem Fels. Rechts hingegen thronte der Berg teils überhängend über dem Weg. Obwohl der Hang über ihnen mit Lawinenschutzwänden und Netzen gesichert war, musste man hier immer mit Abgängen rechnen. Achtete man sich nicht, rissen sie einen erbarmungslos in die Tiefe. Dennoch, breit genug für den Viehtrieb war die Passage und für das saftige Grün, das sich hinter der unwirtlichen Landschaft befand, lohnte sich das Risiko allemal. Zudem befand sich dieses Sommerweideland seit Generationen im Besitz der Reichs. Nur wenige Familienmitglieder hatten hier bisher den Tod gefunden. Denn sie kannten die Gefahren und
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