Unscheinbar
erwarteten sie leer vorzufinden. Also warfen sie nur einen kurzen Blick hinein.
Der Anblick verschlug ihnen den Atem.
An einem der Querbalken hing etwas. Etwas Grosses und Schweres. Die Brüder überkam eine entsetzliche Ahnung. Langsam hoben sie den Blick. Und sahen in starre, rot angelaufene Augen. Inmitten eines kalkweissen, leeren Gesichts. Umrahmt von schwarzem Haar. Um den Hals ein robustes Seil. Die lange Leiter stand noch daneben.
Martin wich bei diesem Anblick angewidert einen Schritt zurück. Gregor empfand eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. Sie hatte es also geschafft. Bei Nacht und Nebel hatte sie hierher gefunden. Und wofür?
„Wir müssen sie runterholen.“ Auf die nüchterne Feststellung folgte das genauso nüchterne Handeln. Entschlossen trat Gregor näher zu der Toten heran und sah sich um.
Martin hingegen brauchte noch einen Augenblick länger um sich zu fassen. „Gregor? Was ist hier passiert?“
„Wonach sieht es deiner Meinung nach aus?“ Er klang gröber als beabsichtigt. Martin konnte nichts dafür, aber er war nun mal hier, und damit der einzige, den Gregor sein Entsetzen spüren lassen konnte.
Martin ignorierte die Bissigkeit in der erhaltenen Antwort. „Auf Miriams Zettel stand, sie glaube, er hätte eine Affäre. Meinst du, sie kam her und erwischte ihn auf frischer Tat?“
Fahrig fuhr sich Gregor durchs Haar. Er sah sich weiter um, bis er eine Decke entdeckte. „Fass mal mit an.“
Martin half Gregor die alte Decke unter der Leiche auszubreiten. Dann klemmte er eine Säge unter den Arm und erklomm die ersten Sprossen. „Halt fest.“
Martin griff mit beiden Händen nach der Leiter und hielt sie fest, damit sie nicht wegrutschte, während Gregor immer höher stieg. Oben angekommen nahm er das Seil und begann es durchzusägen. „Mutter hat immer gesagt, Miriam sei schwermütig geworden. Ob sie ihn erwischt hat oder nicht, wenn sie ihn hier angetroffen hat, gab es bestimmt Streit darüber, weshalb er nicht nach Hause zurückgekehrt war. Dieser Streit vermengte sich wohl mit ihrem Gefühl, betrogen worden zu sein. In ihrer blinden Verzweiflung schnappt sie sich das Seil, positioniert die Leiter und den Rest sehen wir hier.“
„Und Ruben? Er kann doch nicht einfach gegangen sein!“
Gregor hörte auf zu sägen und sah zu seinem Bruder hinunter.
„In den Wohnräumen sieht es aus, als hätte jemand eiligst gepackt. Ob er seine sieben Sachen während dem Streit gepackt hat, vielleicht um ihr zu demonstrieren, dass er sofort verschwinden würde, wenn sie weiter so eine Szene veranstaltete? Oder sie drohte mit dem, was wir hier vor uns haben und er glaubte ihr nicht. Bis sie es wirklich tat. Von Panik ergriffen macht er sich aus dem Staub.“
„Beide Varianten würden bedeuten, er könnte zurückkehren. Aber was ist mit dem Vieh? Hat sie es in wilder Wut verjagt? Hat er es verjagt? Oder war er doch auf dem Rückweg und sie haben sich verpasst? Sie glaubte, er wäre durchgebrannt und erhängte sich in der Verzweiflung.“
„Nein. Das passt zeitlich nicht. Sie war nachts unterwegs.“
„Wir wissen aber nicht, wie spät abends. Sie machte den Weg über unseren Hof, also nahmen sie dort zwei verschiedene Wege. Ging sie in der Dämmerung los, wäre es gut möglich, dass er gleichzeitig auf dem anderen Weg im Tal eintraf, wie sie an unserem Hof ankam.“
Gregor dachte kurz darüber nach. Das war in der Tat eine Möglichkeit. Er wandte sich wieder Miriam zu. Der Gedanke, dass sie sich nur verpasst haben könnten, stimmte ihn noch trauriger. Entschlossen sägte er weiter, bis das Seil nachgab. Der Körper prallte schwer auf dem Boden auf. Direkt neben Martin. Er zuckte unweigerlich zurück. Die Leiter geriet ins Wanken.
„Wirst du wohl die Leiter halten! Oder willst du heute zwei Menschen begraben?“
Sofort festigte sich Martins Griff wieder. Langsam stieg Gregor hinunter.
Gemeinsam packten sie den toten Körper in die Decke. Dann zogen sie das schwere Bündel nach draussen. Martin ging zum Werkzeugschuppen um eine Schaufel zu holen. Ganz selbstverständlich riss er die Tür auf. Auf halben Weg hielt er inne.
„Gregor? Das musst du dir ansehen!“
Ungeduldig liess Gregor von seiner Last ab. Er trat neben Martin und folgte dessen Blick ins Innere des Schuppens.
„Ach du heilige Scheisse! Was ist das denn?“
„Sieht mir ganz nach einer kleinen, privaten Schnapsbrennerei aus.“
„Dieser elende Hund. Komm, lass es uns hinter uns bringen. Dieser Ort ist mir
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