Unscheinbar
konnte.
„Du fehlst ihr.“
Es war nur kurz, doch Emma konnte sehen, wie er zögerte. Dann stülpte er den Helm über den Kopf. Er griff nach dem Lenker, schwang sein rechtes Bein in einer fliessenden Bewegung über das Motorrad, richtete es mit dem Schwung gleichzeitig in eine gerade Position, drehte den Zündschlüssel, zog die Kupplung und bediente den Startknopf. Das Motorrad schnurrte wie eine Katze. Er legte den Gang ein und war verschwunden.
Mara atmete schwer ein. Als sie sich umdrehte, stand ihr das Bedauern ins Gesicht geschrieben. „Fünf Jahre ist’s her. Fünf lange Jahre…“ Mara wurde jäh unterbrochen. Über ihnen polterte es. Das Poltern zog sich weiter auf die andere Seite des Gebäudes, bis es im Erdgeschoss ankam. Dann flog die Tür auf, durch die zuvor Emma eingetreten war.
Eine abgehetzt wirkende Brünette stürmte in die Bar. Noch bevor sie Mara lokalisierte und bemerkte, dass jene nicht alleine war, rief sie laut aus: „War er das? Ist er das gewesen? Mara?“ Sie rannte schier an die Theke, griff nach Maras Händen und zog sie zu sich, um sich ihrer Aufmerksamkeit sicher zu sein. „Mara, war das wirklich Ben? Oder habe ich geträumt?“
Die Falten um Maras Mundwinkel vertieften sich. Sie schien sich beherrschen zu müssen. Fasziniert beobachtete Emma die Seifenoper, von der sie offensichtlich gerade Zeugin wurde.
„Ja, Liss, er war’s. Und jetzt ist er wieder weg. Genauso wie dein Verlobter. Nur so nebenbei.“
Autsch.
Liss machte grosse Augen. „Kevin war hier? Hat er ihn gesehen?“
„Was glaubst du, warum Kevin gegangen ist?“ Mara entzog Liss ihre Hände und griff nach dem Geschirrtuch. Damit wischte sie kräftig über die Theke, obwohl diese längst spiegelsauber war. Dann hielt sie inne und sah auf.
„Liss?“
Erwartungsvoll schaute Liss zu Mara. „Ja?“
„Wir haben einen Gast.“
Enttäuscht lenkte Liss ihre Aufmerksamkeit auf Emma. Emma wurde mulmig zumute.
Können Blicke wirklich nicht töten?
„Sie wünschen?“
Emma schluckte. „Nun, eigentlich ein Bett und etwas zu essen, aber der hier“, sie zeigte auf das Getränk vor sich, „hat im Moment ausgereicht.“ An Liss vorbei suchte Emma Maras Augen. „Wie viel schulde ich dir dafür?“
Mara nickte leicht. „Lass gut sein.“ Und an Liss gewandt fügte sie hinzu: „Liss, zeig ihr Zimmer 3. Das ist frisch gemacht.“ Dann sah sie wieder zu Emma. „50 die Nacht, Frühstück inklusive. Wenn du noch was zu Essen möchtest, dann sagst du Bescheid. Okay?“
Emma mochte diesen Verschnitt einer Altrockerin. „Hervorragend. Vielen Dank.“
Damit erhob sie sich und beeilte sich Liss zu folgen, die beleidigt davon zog.
Zurück im Restaurant trat Liss hinter die Theke und reichte Emma einen Zimmerschlüssel. Mürrisch fügte sie an: „Hinter mir die Treppe rauf, die nächste Treppe rechts, durch die Tür. Das erste Zimmer auf der rechten Seite ist Ihres.“ Noch während sie sprach senkte sie den Blick auf den Thresen vor sich, auf die Zeitschrift, die dort lag. Weitere Fragen waren wohl nicht erwünscht. Leider aber notwendig.
Emma drehte unsicher den Schlüssel in ihrer Hand. „Ich will ja nicht aufdringlich wirken, aber wie komme ich denn nach Hinten zu der Treppe?“
Wie ein genervter Teenager rollte Liss nur die Augen von der Zeitschrift hoch zu Emma. Den Kopf hielt sie gesenkt. Emma fühlte sich an den Exorzisten erinnert.
„Entweder hinter mir durch oder aussen rum.“
Emma haderte nicht lange mit ihrer Entscheidung. Flugs schnappte sie ihre Tasche, zog den Autoschlüssel raus und wandte sich dem Ausgang zu. Auf halben Weg drehte sie sich noch einmal um. Einfach, weil es ihr Spass machte, Liss noch ein wenig zu ärgern.
„Ich hätte da noch eine Frage.“
Nach Liss‘ Blick zu urteilen, würde sie im nächsten Augenblick wie ein Stier schnauben.
Emma kicherte innerlich.
„Ich bin auf der Suche nach dem Haus der Familie Reich. Können Sie mir da helfen?“
Auf einmal veränderte sich die unterkühlte Stimmung grundlegend. Von einer Sekunde auf die andere waren der Trotz und der ungeduldige Ärger, den Liss nicht verbergen konnte oder wollte, aus ihrer Haltung und aus ihren Gesichtszügen verschwunden. Interessiert beugte sie sich vor. Erstaunt registrierte Emma, dass ihre Gastgeberin mit gesenkter Stimme zu sprechen begann.
„Das Haus der Reichs? Was wollen sie von denen?“
Emma trat unweigerlich wieder etwas näher. Irgendwie kam sie sich kindisch vor. Was sollte diese
Weitere Kostenlose Bücher