Unscheinbar
Helm über und startete den Motor. Er drehte nur ein kleines Bisschen am Gashebel, ohne überhaupt die Bremse losgelassen zu haben. Aber es reichte aus. Emma gab den Widerstand auf. Sie rannte förmlich auf das Motorrad zu. Ben schmunzelte in seinen Helm hinein. Er griff kurzerhand nach den Soziusfussrasten und klappte sie hinunter.
Ohne zu zögern schwang sich Emma hinter Ben auf die Maschine.
„Aber wehe, wenn du zu schnell fährst, uns in eine Wand setzt oder dir den Vortritt nehmen lässt!“
„Herzchen, du trägst keinen Helm. Wofür hältst du mich?“
Emma atmete tief ein und schaute unauffällig um sich. Durch die Sitzposition war er ihr definitiv schon nah genug. Sie wollte ihn nicht noch mehr berühren. Nur, wo hielt man sich fest, wenn nicht am Fahrer? Da entdeckte sie hinten an den Seiten der Maschine die Halterungen. Zufrieden griff sie danach. Bis Ben das erste Mal Gas gab. Sofort riss sie die Arme nach vorne und umklammerte seinen Oberkörper.
Ben konnte es sich nicht verkneifen. Noch eine schnelle Drehung aus dem Handgelenk und mit einem Ruck bewegte sich die Maschine ein Stück vorwärts.
Emma gab einen Schreckenslaut von sich, der dem Quieken eines Meerschweinchens ähnelte, währenddessen sich Ben köstlich auf ihre Kosten amüsierte.
Noch bevor sie ganz hinter der ersten Kurve verschwunden waren, kam er aus seinem Versteck im Wald. Er sah ihnen nach, wie sie zwischen den Bäumen verschwanden.
Er hatte alles beobachtet.
Wie leicht es doch gewesen war, sie zu verängstigen. Ein bisschen Rascheln da, ein wenig Knacken dort, zwei, dreimal durch den Rand ihres Blickfeldes gehuscht und sie rannte los wie gehetztes Wild. Und Wild musste man erlegen. Es war so reizvoll gewesen. Er war ihnen so nahe gekommen. Es hatte ihn in den Fingern gejuckt, sofort loszulegen. Aber das hätte nur alles ruiniert.
Er mahnte sich zur Geduld. Das Spiel hatte erst begonnen.
Wie hatten die beiden zuvor gesagt? Sie würden zurückkehren. Und das schon bald.
Also höchste Zeit für einen weiteren Zug auf dem Spielbrett.
Mit einem zurechtgebogenen Draht in der Hand trat er auf den hübschen, roten Mini zu - und brach die Fahrertür erneut auf.
Strang 1 / Kapitel 9
Der Fahrtwind rauschte ihr um die Ohren. Er fuhr ihr mit kräftigen Fingern durchs Haar und zerzauste ihre dunkelblonde Mähne rücksichtslos. Die Luft fühlte sich im Wechsel von Schatten und Sonne kühl und dann wiederum angenehm warm an. Vielerlei Gerüche umwirbelten sie. Feuchte Erde, frisches Gras, vertrocknetes Laub, junges Holz, warmer Frühling vermengt mit einem Hauch von Schnee.
Der Wechsel der Geschwindigkeit aus der Kurve in die Gerade, die fliessende Bewegung der Maschine aus der Neigung in die Senkrechte. Die Landschaft zog an ihr vorbei als würde jemand einen Video vorspulen. Ein aufregender Mix. Das Adrenalin pumpte durch ihre Adern. Ihre Hände begannen leicht zu zittern. Die Wangen röteten sich nicht nur vom Wind und die Augen leuchteten. Emma hätte am liebsten laut gejauchzt.
Im Dorf angekommen hüpfte sie förmlich von der Maschine, die sie zuvor noch so verabscheut hatte. Das glühende Gesicht und ihr breites Lächeln, das sie nicht mehr weg bekam, waren verräterisch. Keine Chance also, die Coole zu spielen, wie sie es gerne getan hätte.
„Da scheint ja jemand Spass gehabt zu haben.“
Emma trat von einem Fuss auf den anderen. „Nein, war scheisse.“
Sie konnte ihm nicht übel nehmen, dass er ihr nicht glaubte. Wie auch! Sie strahlte, als hätte sie sich einen Ballon mit Lachgas übergestülpt.
Aber ihm ging es nicht anders. Hatte er jemals jemanden kennengelernt der so extrem von Abneigung in ansteckende Begeisterung umschlagen konnte? Es wollte ihm spontan niemand einfallen.
Gleichzeitig fragte sich Emma, wann sie das letzte Mal etwas so genossen hatte wie diese kurze Fahrt auf dieser schwarzen Höllenmaschine. Sie kannte keine Antwort.
Und sie konnte auch nicht ahnen, dass sich genau dieselbe Frage vor mehr als dreissig Jahren schon eine andere gestellt hatte…
Strang 2 / Kapitel 10
„Mein Gott, das war ein Ritt!“ Mit leuchtenden Augen stützte Sandrine sich mit beiden Händen auf den Schultern ihres Fahrers ab, erhob sich leicht und zog das rechte Bein behände über den kleinen Koffer auf dem improvisierten Gepäckträger. Ein kleiner Hüpfer, und sie landete mit beiden Beinen neben dem Motorrad auf der Erde.
Gregor zog seinen Jethelm, der eher einer Nussschale als einem
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