Unscheinbar
Er nickte. „Willkommen in der Welt der Ausgestossenen.“ Er reichte ihr die Hand. „Ben.“
Nun hatte der mysteriöse Motorradfahrer also offiziell einen Namen. Na sieh an. „Emma.“
Und tolle Hände. Handwerker? So, wie er zudrückte, lautete die Antwort klar ja.
Aua.
„Nun, Ben, ist es erlaubt, zu fragen, was du hier tust?“
Er musterte sie von oben bis unten. Bei den schmutzigen Stiefeln blieb er hängen. Kein Landei. Stadthuhn. Und hübsch noch dazu. Schwarz getuschte Wimpern, die ein graublaues Augenpaar betonten, nicht überschatteten, wie bei seiner allzu netten Nachbarin. Die dunkelblonden, langen Haare wehten in leichten, natürlichen Wellen um ihr Gesicht. Kein aufwendiges Styling. Sie strich sie mit langen, schlanken Fingern schlicht hinters Ohr, wenn sie sie störten. Eine erfrischende Abwechslung zu den penibel hergerichteten Damen, mit denen er es sonst zu tun bekam.
„Interessiert mich bei dir auch. Ist also ausgleichende Gerechtigkeit. Ich bin hier aufgewachsen, war aber schon eine ganze Weile nicht mehr zu Besuch. Jetzt klappere ich alle Orte aus meiner Kindheit und Jugend ab. Jetzt du.“
„Ich bin Immobilienmaklerin und habe den Tipp eines Freundes erhalten, mich hier mal umzuschauen. Aber je länger ich hier bin, desto mehr habe ich das Gefühl, der Gute hat mich veräppelt.“
Wieder dieses milde Lächeln.
Süsse Lachfältchen um die Augen. Mist, nicht schon wieder.
„Nun, Immobilien sind hier tatsächlich Mangelware. Hat er dich wegen dem Grundstück selbst hierher geschickt?“
„Wenn ich ihn nicht komplett falsch verstanden habe nicht, nein. Wo ist denn das Haus?“
Ben zögerte kurz, dann wies er sie an, ihm zu folgen. Sie gingen nicht mehr weit. Der Trampelpfad führte durch dichtes Gestrüpp. Freundlicherweise hielt Ben ihr die grössten Äste zurück und sie konnte ungehindert passieren. Das Gebüsch spuckte sie auf einer weitläufigen Lichtung aus. Rundherum ragten die Berge in die Höhe. Stille Zeugen der hiesigen Geschehnisse. Der geräumige Platz war gesäumt von weiteren Gebäuderuinen. Besonders von einer. Die Front des mächtigen Bauernhauses schien noch gut erhalten. Gleichermassen imposant wie gespenstisch ragte sie in die Höhe. Als wollte sie krampfhaft versuchen zu verbergen, was für ein trauriges Bild sich dahinter bot. Es gelang ihr aber nicht. Der Abhang hinter dem Haus hatte sich offensichtlich gelöst. Eine mächtige Felslawine war direkt auf das Haus zugerast und hatte alles unter sich begraben. Bis auf die Frontfassade.
Fassungslos starrte Emma auf das skurrile Bild, das sich ihr bot.
Ben trat neben sie. „Beeindruckend, nicht wahr?“
„Eher beängstigend.“ Emma wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Woher die auf einmal gekommen war, wusste sie nicht.
Ben schien es trotz ihrer Bemühung nicht entgangen zu sein. Aber entgegen Emmas Erwartung lachte er nicht. „Auch wenn man nicht besonders übernatürlich angehaucht ist, spürt man diese seltsame Stimmung hier deutlich. Ich glaube nicht an Gespenster. Aber auch ich musste kapieren, dass das Leid, das hier geschehen ist, an diesem Ort hängt, wie ein Schatten.“
„Was ist hier passiert? Alle sprechen von dem tragischen Schicksal dieser Familie. Ich habe auch schon einige schier fantastische Geschichten gehört. Da stellt sich mir automatisch die Frage, ob diese Felslawine das Haus zerstörte, nachdem die Bewohner gegangen waren, ob diese Lawine Teil des entsetzlichen Schicksals war?“ Sie sah mit traurigem Ausdruck in den Augen zu ihm hoch. Er spürte unwillkürlich ein leichtes ziehen in der Magengrube. Verflucht. Dabei wollte er doch Abstand zu Stadthühnern gewinnen. Aber sie schienen ihn bis in die ländlichsten Gegenden zu verfolgen.
„Klug kombiniert. Wer war nochmal dein Auftraggeber? Es interessiert sich seit etwa 30 Jahren keiner mehr für dieses Grundstück. Den Menschen hier wäre es recht, wenn es auch so bleiben würde. Also haben sie die Angelegenheit zu vergessen versucht. Was auch lange funktioniert hat. Bis heute. Also, wer schickt dich?“
Diese Stimmungsänderung kam für Emma überraschend. Sofort stellte sie auf Verteidigung. „Das sind Kundendaten, die kann ich nicht preisgeben.“
„Natürlich. Wie wärs mit einem Vornamen?“
Emma dachte kurz nach. Dann antwortet sie: „Martin.“
Emma wich innerlich zurück. Denn Bens Augen verdunkelten sich auf einmal bedrohlich. „Martin? Mein liebes Stadtpflänzchen, ich denke, du solltest
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