Unscheinbar
trennen. Jens hat damals alle Fälle bearbeitet. Bei jedem Todesfall wurde er gerufen. Diese Familie und ihr Schicksal haben ihn nie losgelassen. Es war das prägendste, was diese Region jemals erlebt hat.“ Kevin richtete sich auf und ging zurück zur Tür. „Seht sie euch an und legt sie dann zurück. Ich werde wieder ins Büro gehen. Wenn ihr fertig seid, sagt mir Bescheid, dann schliesse ich wieder zu.“
Emma wurde mulmig zumute. „Aber wenn Jens…?“
„Jens wird nicht auftauchen. Du hast ihn ziemlich aufgeregt. Er wird sich bei seiner Tochter zuschütten.“
„Oh…“ Schuldbewusst senkte Emma den Kopf. Ihre freudige Erregung über das, was sie vor sich sah, konnte sie aber nicht ganz verbergen.
„Mach dir nichts draus.“ Damit schloss Kevin die Tür hinter sich und Emma blieb alleine mit Ben zurück.
„Hier sind also alle unsere Schreckgeschichten aus der Kindheit niedergeschrieben.“ Wahllos zog Ben eine Akte hervor und schlug sie auf.
„Na, sieh an.“ Trotz all der Tragik zuckte ein Lächeln um Bens Lippen. „Das ist also die Grundlage für die Geschichte darüber, was mit uns passieren würde, wenn wir zu faul oder frech waren.“
Emma kippte den Schalter neben der Tür um und eine einzelne Glühbirne, die von der Decke hing, brachte spärliches Licht. „Der Tod wurde euch angedroht, wenn ihr nicht gehorsam wart? Bei uns gab‘s nur Schokoladenverbot.“
„Eigentlich war es mehr eine Mahnung an uns, wie auch an unsere Eltern.“
Strang 2 / Kapitel 15
Was würde nur aus diesem nutzlosen Kind werden? Wusste dieses Gör denn überhaupt nichts zu schätzen? Auf ihrem Melkschemel sass Rosa Knecht vor der gleichnamigen Kuh und bearbeitete sanft, aber bestimmt deren Euter. In regelmässigen Spritzern floss die Milch in den Eimer, begleitet von den metallenen Klängen, wenn die Flüssigkeit auf das Blech traf. Erste Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Ritzen des Holzstalles. Man konnte den Staub in den Lichtstreifen tanzen sehen, die sich warm über die Rücken der geduldigen Kühe legten. Rosa fuhr mit der Hand über die Flanke der Kuh und sandte ihr ihren Stillen Dank für die immerzu fliessende, frische Milch. Dann erhob sich Rosa langsam. Vorsichtig bog sie den Rücken durch. Im Kreuz knackte es leise und Rosa liess zischend die Luft durch die zusammengebissenen Zähne entweichen. Sie war zu alt für eine solche Arbeit. Aber was hätte sie tun sollen? Ihre unnütze Tochter krümmte keinen Finger und Ruths Angebot, das Rosa aus ihrer Miesere geholfen hatte, abzulehnen, wäre ein Akt der Selbstverstümmelung gewesen.
Natürlich wusste Ruth um Rosas schlimmen Rücken, schliesslich waren sie Schwestern. Deshalb hatte Ruth auch Silina diese Arbeit zugewiesen. Aber wie immer war Silina nirgendwo zu finden.
Dem Kind schien alles egal zu sein.
Rosa umfasste den Henkel des Eimers und hob ihn an. Da schoss ein stechender Schmerz durch die Wirbelsäule. Rosa liess den Eimer los. Er landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem mit Stroh bedeckten Erdboden. Die Milch schwappte gefährlich in dem Gefäss. Es entwichen aber nur wenige Tropfen.
„Oh nein! Rosa!“ Ruth war gerade in den Stall gekommen um zu sehen, ob Silina sich vielleicht endlich ihren Aufgaben stellte. Stattdessen musste Ruth zusehen, wie Rosa sich unter Schmerzen abmühte. „Das musst du doch nicht tun. Ich hätte Ernst schicken können.“
„Die Zeit war zu knapp. Ernst war bereits weg, als sich Silina verdrückt hat.“
„Wo ist sie denn schon wieder?“ Ruth nahm den Kessel in die Hand und mit dem freien Arm stützte sie ihre Schwester.
„Sie ist aufgestanden, hat sich die Gummistiefel übergezogen und ist im Stall verschwunden. Ich hatte sie aus dem Schlafzimmerfenster beobachtet. Du kannst dir vorstellen, wie sehr mich dieser Anblick erfreut hat. Endlich, dachte ich, endlich hat sie’s verstanden. Ich wollte ihr sagen, wie stolz ich war, also ging ich eine halbe Stunde später ebenfalls in den Stall.“ Rosa sah enttäuscht zu Ruth auf.
„Aber sie war nicht da.“
„Nein. Sie war nicht da. Sie ist wohl durch die kleine Tür hinten aus dem Stall raus. Nicht einmal einen Eimer hatte sie geholt. Als ich die Milchkannen kontrollierte, waren sie noch leer. Dafür waren die Euter der Kühe prall gefüllt. Ich ging nochmals raus und habe nach Ernst gesucht, der war aber schon mit den Jungs weg.“
„Und warum hast du nicht mich geholt?“
„Wie kann ich dir eine Hilfe sein, wenn ich dich immer
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